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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Zimmer getreten war. Genau das hatte ich schon bei Regina gesehen.
    Ich rief den Wolf, allerdings nur in meine Augen: Im selben Augenblick wurde eine verschwommene Gestalt erkennbar, aber das Sehen war unangenehm, als ob ich ein Staubkörnchen auf der Pupille hätte. Ein Wimpernschlag genügte, und dann war die Sicht ganz klar. Ivan stand vor uns in der Mitte des Zimmers und sah sich um, verborgen vor dem Blick normaler Sterblicher durch jenen geheimnisvollen Trick, den ich inzwischen gut kannte. Er wirkte angespannt.
    Ich spürte, wie mir das Herz bis zum Halse schlug, und unterdrückte den plötzlichen Impuls, aufzuspringen.
    Er trug Jeans und ein rotes, abgetragenes T-Shirt; seine Haare waren zerzaust und fielen ihm offen auf die Schultern, seine Augen wirkten glanzlos, als hätte er mindestens zwei Nächte nicht geschlafen, und auf der Wange, genau über seiner Narbe, hatte er einen hässlichen blauen Fleck. Ich hatte recht behalten: Die anderen Sektenmitglieder hatten ihm keine angenehmen Tage gegönnt.
    Er machte einen Schritt zur Seite, beugte den Kopf und blieb ein paar Augenblicke unbeweglich stehen, wobei er im Flüsterton etwas murmelte. Dann malte er mit dem Fuß drei Zeichen auf den Boden – das erste war ein Kreis, die anderen beiden konnte ich nicht erkennen –, er hob den Blick und schaute mehrfach zwinkernd in unsere Richtung. Es schien, als würde er angestrengt versuchen, uns zu fokussieren, und es gab keinen Zweifel, dass er etwas erkennen konnte.
    Der Conte nickte bedächtig. »Er hat scharfe Augen. Sie durchdringen unseren Schleier.«
    Ich spürte, wie sich der Conte an meiner Seite steif machte und wie ich gleichzeitig von einem Gefühl überflutet wurde, das ich auf Anhieb wiedererkannte: Es war derselbe Schwindelanfall wie vor einigen Tagen auf der Schwelle des Palazzo Gorani. Allerdings war er – vielleicht, weil ich inzwischen sensibler war oder weil der Conte diesmal anders vorging – viel intensiver. Ein Gefühl, als würde ich ganz plötzlich in ein Becken mit warmem, sprudelndem Wasser geworfen und untertauchen, aber obwohl mir das Wasser in Nase und Mund drang, hatte ich keinerlei Angst, ertrinken zu müssen.
    Ich schwankte auf meinem Stuhl und ließ den Ärmel des Conte los, aber es dauerte nur einen Augenblick; dann spürte ich kalte Nachtluft um mich herum. Ich saß zwar immer noch auf einem Stuhl, aber nicht mehr im Salon des Conte, sondern in einem winzigen, quadratischen Hof, inmitten von ziemlich heruntergekommenen Häusern; die Pflastersteine auf dem Boden waren kaputt und von Unkrautbüscheln überwachsen, und in den Ecken lagen mehrere Haufen mit rostigem Schrott. An dem dunklen Himmel über mir waren nur hier und da ein paar Sternengrüppchen und Wolken sichtbar. Auf der ganzen Szenerie lastete das Vorgefühl einer Gefahr, einer unsichtbaren, aber deutlich spürbaren Bedrohung.
    Ivan war immer noch da, er stand zu einer der Türen gewandt, die in die Häuser führten, aber er sah anders aus: Er trug eine schwarze Jacke, eine ebenso schwarze Jeans und hielt genauso eine Ledertasche in der Hand wie in der Krypta. Ich seinem Gesicht zeigte sich so viel Spannung und verhaltene Angst, dass es maskenhaft wirkte. Und er war deutlich jünger . Er konnte höchstens so alt sein wie ich jetzt, wenn überhaupt. Seine Haare waren kurz geschnitten, und die Narben auf seinen Wangen fehlten.
    Ich drehte mich panisch nach dem Conte um, aber er war nicht mehr neben mir. Im ersten Moment dachte ich, er wäre aufgestanden und würde mit großen Schritten auf Ivan zugehen, aber es war jemand anderes. Er trug einen alten, schwarzen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen, und selbst von hinten erkannte ich den grauen, kurz geschorenen Kopf von Ivans Vater.
    Ein plötzlicher Schrei, der aus der geschlossenen Tür vor Ivan drang, zerriss die Nacht. Ich fuhr zusammen, und auch Ivan durchzuckte es. Es handelte sich ohne Zweifel um den Schrei einer Frau, aber es lag etwas Undefinierbares in ihm, etwas Wildes , Frenetisches, das mich noch panischer werden ließ. Ich sah, wie Ivans Hände krampfhaft die Tasche umklammerten.
    Der Vater blieb an seiner Seite stehen. »Worauf wartest du?«, fragte er mit leiser Stimme.
    Ivan schluckte, bewegte sich aber nicht.
    »Hast du alles?«
    Ivan nickte kaum merklich und hob ihm die Tasche entgegen, als erwarte er, dass der Vater den Inhalt prüfen würde. Dieser aber beschränkte sich darauf, sie anzustarren.
    »Peitsche, Kaltes Eisen, Salz, Johanniskraut,

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