Die zwei Monde: Roman (German Edition)
drehte ich mich um, um nochmals einen Blick auf Ivan zu werfen, der immer noch zwischen den Bäumen kniete – wie ein Opfer. Ich spürte, wie sich der Wolf blutrünstig in mir aufbäumte.
»Nein …«
»Du musst es tun. Es liegt in der Natur des Wolfes. Und du wirst es jetzt gleich tun.«
Die Worte des Conte drangen in mein Fleisch und wirkten wie Öl auf das Feuer der Raserei, das ohnehin schon in mir wütete. »Nein, das können Sie nicht von mir verlangen, nicht …«
»Du bist es, die es nicht ablehnen kann!«
Und in dem Moment, in dem er das sagte, wusste ich, dass es stimmte. Ich beugte mich nach vorn, bereit zum Sprung.
Warum gehorchte ich diesem grausigen Befehl? Was stellte der Conte nur mit mir an? Ich schüttelte heftig den Kopf, und ein langes Knurren kam aus meiner Kehle.
»Kämpfe nicht gegen die Ordnung der Dinge, Veronica.« Die Stimme des Conte erklang jetzt wieder wie ein ruhiger und gleichmäßiger Singsang. »Es ist deine Aufgabe, ihn zu opfern: Und hat er sich nicht dem Lupercal verschrieben? Er hat sein Leben dem Wolf geweiht, und nun kann der Wolf sein Recht und Gesetz walten lassen. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Ich habe dich nie belogen.«
Ja, erkannte ich, das war wahr. Ich hatte es gewusst, jedes Mal, wenn ich in seine smaragdgrünen Augen geblickt hatte und von einer unnatürlichen Ruhe ergriffen wurde. Der Conte war immer ehrlich zu mir gewesen, und er hatte jede einzelne Wahrheit, die er mir verabreichte, sorgfältig dosiert.
Wann hatte ich eigentlich angefangen, alles zu tun, was er mir sagte? Wann hatte ich begonnen, seinen Forderungen automatisch zu gehorchen, die niemals wie Befehle klangen, sondern mich einsponnen, jedes Mal neu, Tag um Tag, Nacht um Nacht in ein unsichtbares Netz aus Respekt und Vertrauen?
Plötzlich war alles glasklar. Er konnte mich dazu bringen, alles zu tun, was er wollte, weil ich ihm die Macht dazu gegeben hatte. Er hatte mir seine Gastfreundschaft und seinen Rat geboten; ich hatte in seinem Haus gegessen und getrunken. Genauso, wie Regina es im Land ihres unmenschlichen Prinzen getan hatte. Er selbst hatte mir ihre Geschichte erzählt und mir damit enthüllt, mit welcher List er auch mich geködert hatte, und ich hatte nichts von alldem gemerkt!
Und jetzt war es zu spät. Die Macht des Symbols hielt mich an der Leine wie ein Hundehalsband: Die Bestie hatte dem Menschen aus der Hand gefressen, hatte auf seine Worte gehört und seine Streicheleinheiten akzeptiert. Conte Gorani hatte den Wolf gezähmt.
Ich hielt die Augen geschlossen, aber ich hörte das Rascheln seiner Kleider, als er sich meinem Ohr näherte: »Du bist der Gott der Wälder: Nimm das Opfer an!«
Ich stürzte los und überwand die Distanz zwischen Ivan und mir in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit. Im letzten Moment hob er den Kopf, aber nicht schnell genug, um noch reagieren zu können: Ich setzte zum Sprung an und … verfehlte ihn.
Ich hatte meine ganze Willenskraft auf diesen einen Moment konzentriert, meinen Beinen den Befehl zum Stillstehen gegeben – aber alles, was ich erreichen konnte, war ein Ausweichen zur Seite. Für den Moment reichte das. Ich landete auf dem Rasen, rollte herum und kam wieder hoch in die Hocke.
Nicht weglaufen!, versuchte ich Ivan zuzurufen, aber über meine Lippen kam nur ein verzerrtes Knurren. Wenn du wegläufst, kann ich nicht anders, als dir zu folgen!
Aber er starrte mich nur mit leerem Blick an, immer noch kniend, ohne die Andeutung einer Bewegung.
Mit den Sinnen des Wolfes nahm ich deutlich die Macht des Conte wahr, die Ivan wie eine Rauchwolke einhüllte, seinen Geist vernebelte und ihn auf die resignative Haltung eines Tieres reduzierte, das zum Opferaltar geführt wird. Der Wolf wütete jetzt in mir mit aller Gewalt, und ich war mir sicher, dass ich ihn nicht mehr lange halten konnte.
Ich hörte die ferne Stimme des Conte, und ein Windhauch trug mir ein Flüstern zu: »Nimm das Opfer an, Veronica von den Wölfen. Tu, was du tun musst, und alles wird vorbei sein. Ich werde auch morgen noch bei dir sein, ich werde dich nicht allein lassen, denn bald wird der Vollmond kommen …«
Meine Kiefer zitterten vor verzweifelter Gier, zuzubeißen. Als ich wie eine Rasende auf Ivan losging, schoss mir die Frage durch den Kopf, wie man wohl aus einem solchen Traum aufwachen kann, wie man überhaupt merkt, ob man träumt.
Aber der Hunger des Wolfs war stärker: Ich schnellte nach vorn und biss zu. Ein schrecklicher Schmerz
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