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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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ihr jemand zur Hilfe kommen würde. Es war die nüchternste Nachricht, die ich je geschrieben hatte, nichts weiter als Adresse und Zeitpunkt, aber sie reichte, um meinen Magen rebellieren zu lassen.
    In der Schule hatten sowohl Susanna als auch Elena gefehlt. Es war wirklich seltsam, Angela allein zwischen zwei leeren Stühlen sitzen zu sehen: Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, erschien sie mir beinahe fehl am Platz, wie zufällig im Klassenzimmer gestrandet, auch wenn ihr Gesichtsausdruck signalisierte, dass alles in bester Ordnung war.
    Am Abend hatte ich die Minuten gezählt, bis das Licht im Schlafzimmer meiner Eltern ausging, aus irgendeinem Grund später als sonst. Wahrscheinlich war meine Mutter in ihre Lektüre vertieft.
    Als endlich alles dunkel war, sprang ich aus dem Fenster und rannte völlig atemlos vorbei an Schornsteinen und Dachluken, unter einem Himmel, der so schwarz war, dass er sogar für die Augen des Wolfes jeder Farbe entleert zu sein schien.
    Ich schlüpfte in das Wohnzimmer des Conte und fand zwei Stühle am Fenster vor, die zur Tür gewandt standen. Es waren nicht die, auf denen ich schon so oft gesessen hatte, sondern zwei mit Samt ausgeschlagene hölzerne Thronsessel mit kunstvoll geschnitzten Rückenlehnen. Ich strich über das glatte, polierte Holz. Diese Stühle mussten zweifellos deutlich länger als ein Menschenleben im Besitz des Conte sein.
    Die einzige Lichtquelle im Zimmer war eine Kerze, die einsam auf einem riesigen Bronzekandelaber thronte. Es lag ein intensiver Duft in der Luft, der auch für meinen menschlichen Geruchssinn stark war: eine süßlich herbe Mischung, die ich zwar nicht kannte, die mich aber an Weihrauch in der Kirche erinnerte.
    Der Conte kam von der Tür aus auf mich zu, und als er in den Lichtschein der Kerze trat, staunte ich nicht schlecht: Er trug weder seine übliche, eher formelle Kleidung, noch den lustigen roten Schlafrock, sondern ein bodenlanges Gewand, für das mir nur eine Beschreibung einfällt: Es war prächtig .
    Der Stoff war von einem tiefen Himmelblau, und jeder Zentimeter war mit vielfarbigen Stickereien bedeckt, sie waren so eng miteinander verwoben, dass sich nicht so leicht erkennen ließ, was sie darstellten. Mitten auf der Brust prangte ein stilisierter Schmetterling mit grünen und blauen Flügeln, die aussahen wie zwei menschliche Gesichter, ein männliches und ein weibliches; gleich darunter befand sich eine zusammengerollte silberne Schlange und auf der Höhe der Taille eine Meute weißer Hunde, die einen ebenfalls weißen Hirsch verfolgten. Außerdem gab es schwarze und weiße Vögel, Bäume und weit geöffnete Augen. Der Kragen des Gewands erhob sich wie ein Fächer hinter dem Kopf des Conte, und die weiten Ärmel endeten in einem Saum aus winzigen Steinen, die in den Stoff eingewebt waren.
    Wie er so vor mir stand, die Hand um einen hölzernen Stock mit spiralförmiger Spitze gelegt, schien mir der Conte wie verwandelt: riesengroß, majestätisch und Furcht einflößend, der Archetypus des Magiers, geschmückt mit den Symbolen seiner Macht.
    Mir wurde klar, dass genau dies der Grund für seinen Aufzug sein musste: Die Symbole verliehen ihm tatsächlich Macht, hier im Herzen seines privaten Heiligtums. Eine plötzliche Unruhe überfiel mich, aber ich zwang mich, ihr kein Gewicht zu verleihen.
    Conte Gorani begrüßte mich mit einem Neigen des Kopfes. »Willkommen.« Damit wies er auf einen der beiden Stühle. »Nimm Platz. Unser Gast kommt in diesem Moment die Treppe herauf.«
    Jetzt schon?!
    Ich setzte mich abrupt und wortlos.
    Der Conte ließ sich mit feierlichen Bewegungen neben mir nieder und breitete seine Ärmel über die Armlehnen des Stuhls. »Berühre ihn«, sagte er und wies mit den Augen auf seinen Ärmel.
    Ich gehorchte und tastete mit den Fingern über die harten, unregelmäßigen Oberflächen der in die Stickereien eingearbeiteten Steine. Aus der Nähe besehen erschienen sie in dem matten Licht seltsam grünlich.
    »Heliotrop«, sagte der Conte als Antwort auf meine stumme Frage. »Er wird uns unsichtbar machen. Lass die Hand dort liegen, nimm sie nicht weg.«
    Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich von draußen das Geräusch der aufgehenden Aufzugstüren hörte. Ich erstarrte förmlich und lauschte, aber ich hörte keine sich nähernden Schritte. Die Tür zum Salon stand offen: Einen Moment später bemerkte ich, dass sich die Augen des Conte bewegten, als würde er etwas oder jemandem folgen, der soeben ins

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