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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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mich dabei anzusehen.
    »Du hast mir mal erzählt …« Ich suchte nach den richtigen Worten. »Dass du deine Augen für einen Tausch bekommen hast.«
    Er hielt mitten im Bissen inne und ließ die Hand sinken.
    »Das ist doch so, oder? Das hast du mir erzählt?«
    Drei ganze Sekunden lang verharrte er unbeweglich, dann nickte er.
    »Einige …« Das Wort kam in einem heiseren Flüstern über seine Lippen. »Einige haben nur ein Auge gegeben. Nur eins. Um Geheimnisse zu sehen.« Er machte eine schnelle Bewegung vor seinem Gesicht, als ob er sich die Finger in die Augenhöhlen stecken wollte; ich bekam eine Gänsehaut. »Nur ein Auge. Wie der Galgenmann. Wie der Wüstenvogel.« Er schluckte. »Aber ich wollte mehr sehen. Ich wollte viele Dinge sehen.«
    Ich wartete, dass er fortfuhr, aber er schwieg. »Und jemand hat dir die Augen gegeben, die du jetzt hast, richtig?«
    Der Bettler besann sich. »Vor langer Zeit. Weit weg. In den Bergen. Im Norden.« Er fuhr sich gedankenverloren mit der Hand über die Stirn, über die Stelle, wo er die seltsame Narbe in Form eines Fingerabdrucks hatte, die auch heute wieder gerötet schien. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ganz tief unten.«
    Ich insistierte nicht weiter. »Dafür hast du … einen Pakt geschlossen, nicht wahr? Eine Vereinbarung. Ich habe noch andere Leute kennengelernt, die so etwas getan haben. Du hast eine Sache gegeben, um eine andere zu erhalten.«
    Er nickte kaum merklich.
    »Und der, mit dem du ihn geschlossen hast, hat sich ebenfalls an den Pakt gehalten, stimmt’s? Er hat ein Versprechen gegeben und es nicht gebrochen.«
    »Ja.«
    Ich atmete tief durch. »Bring mir bei, wie man das macht. Sag mir, wie man einen solchen Pakt schließt, den niemand brechen kann, weder die Menschen noch … andere.«
    Der Mann beschränkte sich darauf, die Augen aufzureißen.
    »Ich bitte dich, ich muss es wissen!« Ich ballte die Fäuste. »Du kannst von mir verlangen, was immer du willst, und wenn ich kann, werde ich es für dich tun. Ich werde dir weiterhin Essen bringen, oder was auch immer du benötigst, aber du musst mir einfach sagen, wie man das macht! Ich muss es wissen, ich muss … Ich bitte dich.«
    Ich weiß nicht, ob er es wegen meiner Versprechen tat, weil er die Verzweiflung in meinen Augen sah oder aus einem anderen obskuren Grund, den ich nie erfahren werde – aber er nickte.
    Und dort auf der Straße, im Regen, in einem Flüstern, das so leicht war, dass es sich im Wind aufzulösen schien, enthüllte er mir das Geheimnis.

Kapitel 33
    Mittwoch, 11. März
    Vollmond
    D as beleuchtete Display des Taxis zeigte sechs Minuten vor Mitternacht, als wir anhielten. Wortlos bezahlte ich den Taxifahrer – ein kleiner und korpulenter Typ, dessen kahler Schädel vom Schweiß glänzte, obwohl es überhaupt nicht warm war – und stieg aus.
    Er schaute mir noch eine Weile mit skeptischem Blick hinterher, wie es jeder getan hätte, der mitten in der Nacht ein junges Mädchen an einem isolierten Ort wie diesem absetzt. Einen Moment lang fürchtete ich, dass er nicht wegfahren oder mich nach meinen Personalausweis fragen würde, um zu sehen, ob ich wenigstens volljährig war. Aber nach ein paar Sekunden zuckte er, mehr für sich als für mich, die Schultern, machte kurzerhand kehrt und fuhr in einer Fontäne von aufspritzendem Schmutzwasser davon.
    Ich sah mich um. Die Baustelle präsentierte sich als kahles, ungepflastertes Areal, unterbrochen von vereinzelten haushohen Hügeln und riesigen Schlaglöchern, die nach drei Tagen Regen aussahen wie schwarze Seen. Ich stand direkt vor dem Eingangstor: Den Bauzaun hätte selbst ein Kind überklettern können. Ein Bagger, der in einer weiter entfernten Ecke geparkt war, sah im Dunkeln aus wie das Skelett eines riesigen toten Insekts. Aus der Ferne hörte man das leise Rauschen des Verkehrs und sah das Blinken der Lichter einer Autobahnüberführung. Die gesamte Baustelle erhellte nur ein einziges Licht, eine Laterne am Straßenrand neben dem Tor: An den Rändern ihres Lichtkreises war ein Auto sichtbar, groß und glänzend.
    Ich machte einen Schritt in Richtung Zaun, und quasi zeitgleich löste sich ein Schatten aus einem der Hügel: Wie ich erwartet hatte, war er vor mir da.
    Ich kletterte über das Gitter und ging ihm entgegen. Wir trafen uns in der Mitte des Geländes.
    Ivans Vater trug einen bleifarbenen Mantel, der unübersehbare Gipsverband an seinem rechten Arm steckte in Tragetuch; in der anderen Hand hielt er die

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