Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Ledertasche der Luperci.
Im Halbdunkel blitzten seine obsidianfarbenen Augen in einem unheimlichen Licht, das ihm ein fast gieriges Aussehen verlieh.
Aber er ist allein gekommen , dachte ich, wie abgemacht .
Die beiden vorangegangenen Tage erschienen mir wie ein seltsamer Traum. Ich sehe sie nur in Bildern, in unbeweglichen Fotogrammen: Der Regen, der unaufhörlich auf die Fensterbretter hämmerte, die leeren Plätze von Angela und ihren Freundinnen, der Geschichtslehrer, der etwas an die Tafel schrieb, Ivans Stimme am Telefon. Und dann das Telefonat vom Dienstagabend, für das ich die Nummer im Online-Telefonbuch herausgesucht hatte. Nach diesem Gespräch konnte ich selbst kaum glauben, was ich getan hatte: War das wirklich möglich? Genügten ein Name und eine Telefonnummer, um eine Kette von Ereignissen in Gang zu setzen, zu denen ich gerade den ersten Schritt getan hatte?
Am späten Mittwochnachmittag hatte es schlagartig aufgehört, zu regnen: Von diesem Zeitpunkt an klären sich auch meine Erinnerungen auf, als wären sie tatsächlich aufgrund des Regens verschwommen gewesen. Ich ging zum Fenster und öffnete es: kalte, feuchte Luft, nass glänzende Dächer, das übliche Flugzeug am Himmel. Es schien ein Tag wie jeder andere, ein x-beliebiger Mittwoch. Ich blieb so lange stehen und schaute hinaus, bis die Sonne unterging, unsichtbar hinter den Wolken verborgen; es hätte mein letzter Sonnenuntergang sein können, und ich hatte ihn nicht mal richtig gesehen.
Es begann, sobald es dunkel wurde: ein Kribbeln unter der Haut, ein leichtes Brennen ganz unten in der Kehle, eine erwartungsvolle Gespanntheit, die nicht nur von der Nervosität herrühren konnte, die Stunde um Stunde in mir wuchs. Selbst meine Haare befanden sich in einem deutlich spürbaren Spannungszustand, als ob die Luft voller Elektrizität wäre.
Am Tag zuvor hatte ich im Internet gelesen, dass der Mond heute Abend um Viertel nach sieben aufgehen und morgen früh um halb sieben untergehen würde. Bei dem Gedanken, mich vielleicht schon zur Abendessenszeit zu verwandeln, war ich so erschrocken, dass ich sofort Ivan angerufen hatte: Er hatte mich beruhigt und mir gesagt, dass erst spät in der Nacht etwas passieren würde, und die Tatsache, dass der Mond nicht zu sehen war, es vielleicht sogar noch weiter hinauszögern würde. Und doch spürte ich an der Schwelle zur Nacht bereits ganz deutlich die ersten Anzeichen.
Kurz vor dem Abendessen rief Ivans Vater mich zurück und gab mir Treffpunkt und Uhrzeit durch: Mitternacht. Ich suchte die Adresse auf Google Maps: eine Baustelle am südlichen Stadtrand von Mailand, irgendwo im Niemandsland. In dieser Gegend fuhr weder ein Bus noch eine Metro.
Mit Ivan war ich im Norden verabredet, am anderen Ende der Stadt. Um halb zwölf sollte ich dort eine Haltestelle vor Endstation aus der Metro steigen; Ivan und sein Freund, der Eigentümer des Kellerverlieses, würden auf mich warten, bereit, mich ins Auto zu laden und nach Monza zu fahren.
Bei unserem letzten Telefonat hatte ich mich möglichst unauffällig verhalten und mich von ihm verabschiedet, als ob wir uns in wenigen Stunden wiedersehen würden. Dabei wusste ich bereits, dass ich zu dieser Verabredung nicht erscheinen würde.
Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich mit ihm gesprochen hatte, und ich hatte ihm nichts davon sagen können.
Beim Abendessen sagte ich meiner Mutter, dass es mir nicht gut gehen würde, dass mir übel sei und ich nur was Warmes trinken und dann gleich ins Bett schlüpfen würde. Sie strich mir über den Kopf, sagte mir etwas Liebes und kochte mir eine Tasse Brühe. Vor dem PC sitzend zwang ich mich dazu, sie auch wirklich zu trinken. Eigentlich hatte ich vorgehabt, meinem Vater und ihr zu schreiben, für den Fall, dass die Dinge schlecht für mich ausgingen und sie mich am nächsten Morgen nicht in meinem Bett vorfinden würden. Aber ich starrte eine Ewigkeit auf das weiße Blatt auf dem Bildschirm und gab schließlich auf. Ich würde mich selbst von ihnen nicht verabschieden. Genauso wenig, wie ich mich von Ivan verabschiedet hatte. Oder von Irene.
Fang jetzt bloß nicht an, zu heulen, Veronica: Du darfst jetzt nicht herumjammern wie ein kleines Kind. Du musst stark sein, stärker, als du je in deinem Leben gewesen bist!
Es war noch nicht mal elf, als bei meinen Eltern das Licht ausging und ich mich bereit machte, zum letzten Mal heimlich das Haus zu verlassen. Ich zog bequeme Jeans an, einen alten, dunkelgrünen
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