Die zwei Monde: Roman (German Edition)
herumgetrieben. Es war ganz still, nur das Heulen des Windes war zu hören, der zwischen den Häusern hindurchfegte wie durch einen Canyon. Er trug Staubwirbel mit sich und den Geruch von Smog und Regen.
Das Mädchen war nirgends zu sehen, aber zu meiner linken nahm ich eine Bewegung wahr, einen schwarzen Umriss, der schon einen Moment später in der Dunkelheit am Ende der Straße verschwunden war.
Ich rannte spontan hinterher. Ich war mutterseelenallein auf den Straßen der Stadt unterwegs, in tiefster Nacht, und ich hatte soeben einen Schatten in einer Gasse verschwinden sehen – und doch blieb ich keinen Augenblick stehen, um mir darüber klar zu werden, wie absurd das Ganze war. Meine Ahnungen quälten mich stärker als zuvor und signalisierten deutlich eine unmittelbare Gefahr, die in immer bedrohlichere Nähe rückte.
Als ich um die Ecke bog, war das Mädchen wieder da, etwa zwanzig Meter von mir entfernt. Sie rannte die verlassene Straße entlang, behindert von ihrem Rock, die mit Blumen gesprenkelten Haare ganz zerrauft vom Wind. Hinter ihr bewegte sich der Schatten, er schien auf dem Asphalt eher zu gleiten als zu rennen, flink wie ein Fisch, der durch ein Meer aus flüssigem Dunkel flitzt. Ich erkannte auf Anhieb seine schwarze Kutte wieder.
Immer noch rennend und zwischendurch stolpernd drehte das Mädchen plötzlich nach rechts ab und verschwand hinter einem Geländer aus meinem Blickfeld. Ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen und plötzlich tauchte eine zweite Gestalt im schwarzen Mantel auf, die sich der ersten anschloss, fast als würde sie sich aus deren Schatten materialisieren. Ich war mir sicher, dass das Mädchen keine Chance hatte, sich in Sicherheit zu bringen.
Also rannte ich, so schnell ich konnte.
Ich explodierte in einen atemlosen Sprint, plötzlich befreit von meinem Körpergewicht, nur noch ein Bündel aus energiegeladenen Muskeln.
Ich war schnell wie der Wind, der mir in den Ohren pfiff. Irgendetwas passierte mit meinen Augen, eine Art Ameisenkribbeln, genau wie in jener Nacht, als etwas an meinem Fenster gekratzt hatte. Diesmal aber leistete ich keinen Widerstand und fühlte, wie meine Pupillen sich weiteten. Die Welt explodierte in ein Meer von Formen und Farben, als ob plötzlich Tag wäre. Aber es waren andere Farben, in einer Bandbreite, die ich mir niemals hätte ausmalen können. Ich blieb nicht stehen, um zu schauen, sondern hielt die Augen fest auf das Mädchen geheftet, das jetzt von einem sanften orangefarbenen Lichtschein umgeben war.
Ich erblickte sie auf der anderen Seite des Gitters, hinter dem sie verschwunden war. Es war ein mehrere Meter hoher Zaun um eine Grünanlage. Ich sah, wie sie erneut stolperte, langsamer wurde, stehen blieb und zurückwich. Einen Sekundenbruchteil später begriff ich, warum: Zwei weitere schwarze Gestalten kamen von vorn auf sie zu, während ihre beiden Verfolger von hinten immer näher rückten. Sie war in der Falle, und es war klar, dass ich trotz der Geschwindigkeit, zu der ich plötzlich in der Lage war, nicht rechtzeitig da sein würde. Ich scherte seitwärts aus und übersprang das Geländer.
Ich habe noch oft an jenen Moment gedacht, aber wie sehr ich mich auch mühte: Es ist mir nie gelungen, ihn mir ins Gedächtnis zurückzuholen. Gerade noch war ich in vollem Lauf und einen Wimpernschlag später in der Luft, in drei Metern Höhe, unter mir wie in einer Blitzaufnahme das Geländer –, so als wäre zwischen Handlung und Gedanken überhaupt keine Zeit vergangen.
Mit einem Knie und einer Hand auf dem Boden landete ich auf der anderen Zaunseite im Gras und machte einen Satz nach vorn, genau wie in meinen Träumen (was mir aber erst später bewusst wurde). In weniger als zwei Sekunden befand ich mich an der Seite des Mädchens. Sie schrie erschrocken auf, als ich so aus dem Nichts auftauchte. Ich positionierte mich zwischen sie und die näher rückenden schwarzen Männer, und wie instinktiv stellte sie sich hinter mich, geschüttelt von lautlosen Schluchzern.
Die beiden Verfolgerpaare vereinten sich in der Mitte des Weges und bauten sich vor uns auf, die Säume und Ärmel ihrer Kutten flatterten im Wind wie lange schwarze Flaggen. Vier völlig identische Männer, ein Gesicht wie das andere: kahle Schädel, die im Schein einer fernen Straßenlampe glänzten, und Augen aus Obsidian, die uns unbeweglich anstarrten.
»Verschwindet.«
Die Stimme, die hoch und klar aus mir herauskam, erkannte ich selbst kaum wieder. Vage
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