Die zwei Monde: Roman (German Edition)
wurde mir bewusst, dass ich vor Entsetzen völlig verschüchtert und in Tränen aufgelöst hätte sein müssen. Stattdessen starrte ich die vier Gestalten an, ohne etwas anderes zu empfinden als Wut.
Die vier standen regungslos, aber ein Zittern durchlief die Luft und ein Geflüster drang an mein Ohr, so leicht, dass ich nicht mal sicher war, ob ich es wirklich hörte oder mir nur einbildete.
»Lass uns vorbei. Du hast kein Recht, dich einzumischen.«
Hinter mir ließ das Mädchen ein Stöhnen hören.
Ich versuchte vergeblich, herauszufinden, von welchem der vier Männer die Stimme kam. Es gelang mir nicht mal, zu unterscheiden, ob sich ihre Lippen wirklich bewegten.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
Die vier wechselten einen Blick, wobei sie kaum die Köpfe drehten.
»Die Flüchtige gehört uns.«
»Nein.«
»Die Flüchtige gehört der Erde. Sie ist die unsere.«
»Nein.«
»Sie hat sich nachts draußen herumgetrieben, sie wusste, was sie riskierte. Der Unsterbliche ist nicht da, sie zu schützen: Auch er wusste, dass er sie nicht für immer verbergen kann. Lass uns vorbei.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redeten, aber eines wusste ich sicher: Ich würde nicht zulassen, dass sie ihr auch nur ein Haar krümmten.
Ich schüttelte von Neuem den Kopf.
»Wir zollen dir Respekt, und wenn dies jetzt dein Territorium ist, dann versprechen wir, dass wir uns nicht mehr gegen deinen Willen hier aufhalten werden. Aber such dir deine Beute unter den Menschen, wie du es immer getan hast, und lass uns, was unser ist. Die Flüchtige wird zur Erde zurückkehren: Sie kann ihre Entscheidung nicht widerrufen.«
»Ihr werdet sie nicht anfassen.«
»Auch wenn du aus alter Zeit kommst, hast du nicht das Recht, dich einzumischen.«
»Verschwindet!«
Ich machte einen Schritt nach vorn, mehr um meine Worte zu unterstreichen als zu drohen. Und da geschah etwas, das ich nie, wirklich niemals erwartete hätte: Sie wichen zurück.
Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, und holte langsam tief Luft. »Geht zurück dorthin, von wo ihr gekommen seid, und wagt nie mehr, einen Fuß in die Nähe meines Hauses zu setzen.«
Ich trat einen weiteren Schritt vor, und sie wichen noch weiter zurück, in einer absurd anmutenden Synchronbewegung, die Teil einer Halluzination zu sein schien.
»Ich habe gesagt, dass ihr verschwinden sollt!«
Ich lehnte mich mit geballten Fäusten nach vorn, die Knie leicht gebeugt, als ob ich zum Sprung ansetzen wollte. Ich hatte diese Haltung ganz automatisch angenommen, ohne darüber nachzudenken, und ebenso automatisch fletschte ich die Zähne.
Die vier Schatten wurden von einem Zittern erfasst, dann, ganz langsam, ohne mir den Rücken zuzudrehen, bewegten sie sich auf die andere Straßenseite zu. Sie blieben einen Moment bewegungslos stehen, dann glitten sie schnell in die Richtung davon, aus der das zweite Paar gekommen war. In weniger als drei Herzschlägen hatte ich sie aus den Augen verloren.
Ein gewaltiger Windstoß fegte durch die Straße, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Stille.
Auch der keuchende Atem des Mädchens hinter mir war verstummt. Noch bevor ich mich umdrehte, wusste ich, was ich sehen würde: Sie war verschwunden.
Nach einer Minute der Erstarrung wurde mir klar, dass alles vorbei war und außerdem eine Eiseskälte herrschte. Wie hatte ich es nur angestellt, das bis jetzt nicht zur Kenntnis zu nehmen?
Ich zog meinen Schal so zurecht, dass er auch meine Schultern bedeckte, und machte mich mit langsamen Schritten auf den Heimweg. Der Wind hatte sich ausgetobt, und auf die leeren Straßen hatte sich eine Ruhe gesenkt, die beinahe überirdisch schien. Auch die Dunkelheit war zurückgekehrt; oder besser, meine Augen hatten die Fähigkeit verloren, sie zu durchdringen.
Ich bemühte mich nicht, zu analysieren, was geschehen war: Ich wäre dazu sowieso nicht in der Lage gewesen. Für den Moment wollte ich nichts anderes mehr als mein Zimmer, mein warmes Bett und vielleicht eine Tasse heiße Milch, wenn es mir gelingen würde, sie zuzubereiten, ohne meine Eltern aufzuwecken.
Zu Hause angekommen, schloss ich hinter mir die Haustür ab und stieg die Treppen zu unserer Wohnung hinauf. Die Tür war offen, das Licht im Gang brannte. Auf der Türschwelle stand meine Mutter.
K apitel 9
Samstag, 14. Februar
Abnehmender Mond
A m Morgen danach ließ ich den Wecker eine halbe Stunde früher klingeln. Ich duschte lange, bürstete mir die Haare, bis
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