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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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und beleuchtete den Gegenstand, und für einen sehr kurzen Augenblick glaubte ich zu sehen, wie er sich zusammenzog. Ich fuhr zurück, aber als ich ihn wieder hinsah, war nicht mehr die Spur einer Bewegung erkennbar, und so musste ich davon ausgehen, dass ich mich getäuscht hatte.
    Jetzt, da er nicht mehr im Halbdunkel lag, wurde seine Form deutlicher: Es schien sich tatsächlich um ein Stück Holz zu handeln, allerdings nicht verarbeitet, sondern ganz natürlich gewachsen: Von einem kleinen, zentralen Stamm gingen vier Verzweigungen ab, zwei am unteren Ende, die etwas länger und miteinander verschränkt waren, und zwei am oberen, die sich ganz gerade an den Mittelkörper anlegten. Die Umrisse ließen an einen menschlichen Leib mit Armen und Beinen denken: Das Ding sah aus wie eine sehr seltsame Holzpuppe.
    »Hast du so etwas schon mal gesehen?«, fragte der Conte.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Dies, Veronica, ist eine Alraune.«
    Der Name kam mir bekannt vor: Ich musste ihn schon einmal gehört haben. »Das ist eine Wurzel, nicht wahr?«
    »Ja. Die Wurzel einer Pflanze, die davon geträumt hat, menschlich zu sein.«
    Ich starrte ihn an, perplexer denn je, und er lud mich mit einer Geste ein, die Alraune in die Hand zu nehmen. Ich tat es mit äußerster Vorsicht: Sie war leicht, trocken und rau bei der Berührung, und sie roch nach altem Staub.
    »In den vergangenen Jahrhunderten sagte man der Alraune immense Kräfte nach: Man glaubte, dass sie jeden unsichtbar machen könne, der von ihr kostete, dass sie jedes Gift unschädlich machen und Krankheiten heilen oder auch dass sie den Willen eines Menschen beherrschen könne und sogar so viel Macht hätte, Hass oder Liebe auf den ersten Blick hervorzurufen. Zauberer und Alchimisten waren ganz versessen auf sie. Aber es hieß auch, dass die Wurzel bei jedem Versuch, sie aus dem Boden zu reißen, mit menschlicher Stimme schreien würde, herzzerreißende Schreie des Schmerzes und der Verzweiflung, die jeden, der sie hörte, auf der Stelle tot umfallen ließen. Wer sie pflücken wollte, umschlang die Wurzel deshalb mit einer Schnur, die am Halsband eines Hundes befestigt war; dann liefen die Menschen schnell davon und riefen laut nach dem Tier, das im Loslaufen die Pflanze entwurzelte und anstelle seines Herrn tot umfiel.«
    Ich legte die Pflanze sofort wieder hin. »Wie entsetzlich.«
    »Das Opfer ist das Elixier der Macht. So sagt das Gesetz: Nichts Großes kann geschaffen werden, ohne dass gleichzeitig etwas verloren geht.«
    »Aber was hatte dieser arme Hund mit den Machtgelüsten seines Herrn zu tun? Es ist grausam …«
    »Ja, das ist es. Aber in der Welt hat es nie an Menschen gefehlt, die bereit waren, die zu opfern, die sie lieben.«
    Ich fühlte einen Geschmack nach Staub im Mund.
    In diesem Moment ging quietschend die Tür auf, und Regina kam mit dem Tee herein; diesmal hatte sie auch ein Tablett mit Gebäck dabei, das ziemlich einladend aussah und mir angesichts der nachmittäglichen Stunde sehr gelegen kam. Zum ersten Mal an diesem Tag entzündete sich in mir ein Funken guter Laune.
    Ich sah den Conte unverwandt an, während er die beiden Tassen füllte.
    »Und das alles ist wirklich passiert? Ich meine, die schreiende Alraune, der Hund und all das?«
    »Gelegentlich.«
    Ich atmete tief durch. »Und was hat das mit der ›wilden Bestie‹ zu tun?«
    »Vor langer, langer Zeit, als die Welt noch jung war, träumten die Menschen und die anderen Lebewesen anders als heute. Sie träumten mit Intensität . Und manchmal umarmten ihre Träume einander und vermischten sich, bis es unmöglich war, den einen vom anderen zu unterscheiden. Ein Mensch konnte eine Pflanze lieben und mit ihr ein Kind zeugen; ein Stein konnte den Kuss der Sonne und den Geschmack des Wassers mit so viel Kraft herbeisehnen, dass er Wurzeln schlug und lernte, dem Himmel entgegenzuwachsen. Und zu jener Zeit träumte ein Wolf davon, menschlich zu sein.«
    Ich legte das Gebäckstück, das ich in der Hand hielt, wieder auf den Teller und sah den Conte an.
    »Tatsächlich geschah dies nicht nur ein Mal, sondern viele Male. Oder vielleicht doch nur ein Mal, aber dieser eine Traum hallte in der Welt der Menschen wider, wie eine Welle gegen die Felsen schlägt, wieder und immer wieder, bis alle Völker der Erde, jedes auf eine andere Weise, sich seiner bewusst wurden. Die ersten Völker des heutigen Italiens kannten den Wolf, der Mensch sein wollte, schon vor der Ankunft der Indoeuropäer, vor den

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