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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Tasche zog und seine Pfeife stopfte. »Und wer kann schon sagen, wie sehr Visconti sich dessen bewusst war, was er tat, oder wie viel er zu opfern bereit war? In einer Winternacht, ein halbes Jahrhundert nach Matteos Tod, wurde dessen Urenkel Gian Galeazzo von einem Dämon besucht. Im Schlafzimmer seines eigenen Hauses. Vielleicht war es derselbe Dämon, mit dem Matteo so viele Jahre geschachert hatte. Und vielleicht war er gekommen, um von den Nachfahren einzulösen, was der alte Magier ihm versprochen hatte.«
    Ich schluckte. »Und was geschah dann?«
    »Nun, der Herr von Mailand versprach diesem Dämon – im Tausch für seinen Seelenfrieden –, ein gigantisches Gotteshaus zu dessen Ehren zu errichten, mitten im Herzen der Stadt, das sein in Stein gehauenes Bild vor aller Augen brächte. Der Dämon willigte ein, denn Dämonen sind ein eitles Geschlecht. Und Gian Galeazzo hat sein Versprechen gehalten: Er legte den Grundstein für den Bau des Doms, indem er die beiden Kirchen zerstörte, die sich vorher dort befanden, und er sorgte dafür, dass es unter den Tausenden von Figuren und Statuen, mit denen die Kirche verziert war, nicht an Dämonen fehlte.« Die Lippen des Conte kräuselten sich erneut zu einem kleinen Lächeln. »Auch wenn das vielleicht nicht ganz das war, was der Dämon gemeint hatte.«
    Es folgte ein Schweigen, durchdrungen vom Duft des Pfeifentabaks.
    »Ist das alles wahr?«, fragte ich endlich.
    Der Conte sah mich fest an, immer noch schmunzelnd. »Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Der Bau des Doms wurde erst im neunzehnten Jahrhundert fertiggestellt, mehr als vier Jahrhunderte nach seinem Beginn: Gian Galeazzo war zu dem Zeitpunkt schon lange zu Staub zerfallen. Und der Kirchenbann über Matteo Visconti wurde vor allem aus politischen Motiven verhängt, auch wenn er tatsächlich im Ruf stand, ein Zauberer zu sein.«
    Ich wusste nicht, ob ich lachen, mich ärgern oder erleichtert aufatmen sollte. »Finden Sie es unterhaltsam, sich über mich lustig zu machen?«
    Es sollte gekränkt klingen, aber es gelang nicht. Erst jetzt wurde mir klar, wie leicht es war, mir in meiner momentanen Situation einen Bären aufzubinden.
    »Ein bisschen«, erwiderte der Conte mit einem Blitzen in den Augen, das ihn verjüngte. »Ich bitte dich, mir zu verzeihen. Aber die Sage, die ich dir erzählt habe, gibt es wirklich, und ich habe sie dir nicht ohne einen bestimmten Zweck aufgetischt.«
    »Und welcher wäre das?«
    »Dir zu zeigen, dass diese Stadt eine viel komplexere Vergangenheit verbirgt, als man heute gemeinhin annimmt. Eine Vergangenheit, die düstere Schatten wirft, auch jenseits der Welt der Menschen.« Er machte es sich am Tisch bequem, und ich folgte ihm. »Unter dem Asphalt und dem Zement Mailands, unter dem Nebel, Smog und Verkehrslärm bewegen sich unsichtbare Kräfte, die sehr alt und sehr, sehr mächtig sind. Und das ist in vielen Städten so: Unsere Vorfahren haben ihre Häuser nicht zufällig irgendwo errichtet. Zu Zeiten der Gallier, noch vor der Ankunft der Römer, war diese Stadt ein Medhelan .«
    »Ein was?«
    »Ein Medhelan , ein keltischer Wallfahrtsort. Ein sakraler Ort im Herzen eines Waldes, geweiht den Göttern, die über jenen Teil der Welt herrschten, der nicht den Menschen gehörte.« Er sah mich an, jetzt wieder ernst. »Geweiht den Herren der Wälder.«
    Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. »Ich dachte, dass dieses Wesen … dieser Lupercus ein Gott der Völker des Latiums war …«
    »Der Wolfsmensch ist jedem Volk der Erde bekannt. Oder könntest du mir eine Zivilisation nennen, in dessen Geschichte er nicht auftaucht? Die Schamanen der sibirischen Steppen beschworen ihn jahrtausendelang durch den Klang von Trommeln und Knochenrasseln, die amerikanischen Ureinwohner heulten seinen Namen, wenn sie nachts ums Feuer tanzten, die Mayas und die Azteken brachten ihm so grausame Blutopfer dar, dass einem lateinischen Priester das Blut in den Adern gefroren wäre, wenn er nur davon gehört hätte. Für die Griechen war er Apollo Lykos , Apollo der Wolf, das wildere Antlitz eines Gottes, der schon in seiner gewöhnlichen Erscheinungsform für finsteren Schrecken sorgte. In Skandinavien feierten ihn die Krieger im Kampf, luden ihn lautstark in ihre Körper ein, damit er sie in etwas verwandelte, das über das Menschliche hinausging; sicherlich hast du schon mal von den Berserkern gehört.«
    Ja, irgendetwas hatte ich darüber gelesen. In meinen Comics, aber das behielt ich für

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