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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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mich.
    »Und in Asien, in Afrika, auf den pazifischen Inseln«, schloss der Conte, »wirst du seine Geschichte in tausend Varianten finden. Ab und zu wird es sich nicht um einen Wolf handeln, sondern um andere Tiere: Bären, Tiger, Jaguare, Panther, Haie. Denn natürlich war es nicht allein Sache des Wolfes, von der menschlichen Natur zu träumen.«
    Natürlich …
    Jeder Satz, den ich hörte, brachte ein halbes Dutzend neuer Fragen mit sich. Aber ich durfte mich nicht verwirren lassen, ich musste mich an mein System halten, das ich am Abend vorher mühevoll ausgearbeitet hatte. Ich zog meinen Notizzettel heraus; der Conte reagierte mit dem für ihn typischen Lächeln.
    »Dies ist ein Fragebogen, wie ich annehmen muss.«
    Mir fiel weder ein Weg noch ein Grund ein, die Frage zu umgehen. »Ja.«
    »Ich werde mein Bestes tun, um zu antworten, aber unter zwei Bedingungen.«
    »Ich höre.«
    »Die erste ist, dass du für ein paar Minuten deine Steifheit aufgibst, die Jacke ausziehst und ein wenig von dem Kuchen isst, den Regina für uns gebacken hat.«
    Ich entspannte mich sofort. Ich wusste nicht, warum, aber ich hatte wesentlich Schlimmeres erwartet.
    »Und die zweite?«
    »Die zweite ist, dass du mir zuallererst von deinen Träumen erzählst.«
    Ich zögerte einen Moment, dann nickte ich. Früher oder später würde ich das sowieso tun müssen.
    »Eine Sache noch, bevor wir anfangen.« Da war eine Frage, die zwar nicht auf meinem Zettel stand, die mir aber in den letzten drei Tagen immer wieder im Kopf herumging. »Ich muss es einfach wissen.«
    Der Conte nickte.
    Ich holte tief Luft. »Warum tun Sie das? Warum haben Sie beschlossen, mir zu helfen?«
    Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie er darauf reagieren würde. Aber er wies lediglich mit dem Kopf auf das Regal, wo das Ausführliche Journal wieder an seinem alten Platz stand.
    »Du hast selbst gelesen, was passiert, wenn der Wolf frei und ohne Kontrolle ist. Wünschst du, dass das wieder geschieht?«
    Nein. Mit all meiner Kraft: nein .
    Also erzählte ich ihm meine Träume, angefangen von der Nacht, in der ich gebissen worden war, mit allen Details, an die ich mich erinnern konnte. Er hörte schweigend und vollkommen unbeweglich zu.
    »Faszinierend«, kommentierte er zum Schluss. Dies schien alles zu sein, was er zu dem Thema zu sagen hatte.
    »All diese Träume waren Erinnerungen, oder? Erinnerungen an andere Leben, die der Wolf als menschliches Wesen gelebt hat.«
    Der Conte nickte. »An ein Leben im Besonderen, würde ich sagen: an das letzte. Das, das er am besten in Erinnerung hat.«
    »Das würde bedeuten, dass er seit 1792 in keinem menschlichen Körper mehr gelebt hat?«
    »Offensichtlich.«
    »Aber was hat mich dann in jener Nacht angefallen?« Es war die erste Frage, die auf meinem Zettel stand.
    »Hast du es nicht gesehen?«
    »Nein. Ich war …« Ich wollte schon sagen, dass ich betrunken gewesen war, aber dann zwang ich mich, die Wahrheit zu sagen. »Jemand hat mir Drogen verabreicht. Ich weiß fast nichts mehr von diesem Abend.«
    In den grünen Augen des Conte blitzte etwas auf, aber so kurz, dass ich es nicht deuten konnte.
    »Es war sehr neblig«, fuhr ich fort, »und ich meine, dass ich jemanden rennen und etwas rufen hörte, aber sonst erinnere ich mich an nichts.« Ich sah dem Conte in die Augen und ballte die Fäuste unterm Tisch, um seinem Blick standzuhalten. »Warum hat er mich gebissen? Sie haben gesagt, der Wolf entscheidet selbstständig, wann er von einer Person in die nächste übergehen will: Warum ist er, statt mich zu zerfleischen, in mich gefahren?«
    Der Conte blickte mich weiter ruhig an. »Das entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich könnte eine Hypothese wagen.«
    »Die da wäre?«
    »Er hatte das Gefühl, in Gefahr zu sein.«
    Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. »Er hatte das Gefühl, in Gefahr zu sein? Eine Kreatur wie er?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was einem solchen Ungeheuer Angst machen sollte.«
    »Etwas, gegen das nicht einmal er ankämpfen konnte. Etwas, das in der Lage gewesen wäre, ihm das Los aufzuerlegen, das ihn mehr als alles andere erschreckte: die Verbannung aus der Welt der Menschen. Du hast gesagt, du hast Stimmen gehört, in jener Nacht.«
    Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. »Eine Stimme … Ja, ich bin fast sicher. Sie rief etwas, aber ich weiß nicht, ob sie mich meinte oder jemand anderen.«
    »Er wurde verfolgt. Sehr wahrscheinlich

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