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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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pulsieren, die ich im Traum gespürt hatte. Vor meinen Augen tanzten noch immer höchst lebendig die Traumbilder samt allen Empfindungen, die sie begleitet hatten. Schneller als der Wind durch die Nacht zu laufen, vollkommen frei, wie eine Naturgewalt, wie an dem Abend, als ich Regina gefolgt war und ihre Verfolger zurückgejagt hatte in die Schatten …
    Ich ging zum Lichtschalter, löschte das Licht und lenkte meine Konzentration auf das Halbdunkel um mich herum. Der Wolf konnte im Dunkeln sehen, vielleicht noch besser als bei Tageslicht: Ich starrte in die Finsternis meines Zimmers und bemühte mich, jenes Kribbeln der Pupillen auszulösen, das ich immer gespürt hatte, wenn ich etwas durch seine Augen sah.
    Ich ließ den Blick in alle Ecken gleiten, richtete ihn dann auf einen präzisen Punkt und konzentrierte mich mit aller Kraft, die mir zu Gebote stand: Schau, Veronica, schau durch das Dunkel, schau mit den Augen des Wolfes …
    Nichts. Ich spürte, wie mir die Wut die Kehle zusammenschnürte. Nein, das war einfach nicht richtig! Wieso sollte ich immer nur passiv hinnehmen, was mir widerfuhr? Warum hatte ich die Kontrolle über mein Leben verloren, wer hatte mir das Recht genommen, meine eigenen Entscheidungen zu fällen?
    Das Zimmerfenster brachte mich auf eine riskante Idee.
    Ich öffnete es, klappte die Fensterläden auf, und bevor ich mir dessen wirklich bewusst wurde, stand ich schon auf dem Fensterbrett. Der Wolf kam nur, wenn ich das Gefühl hatte, in Gefahr zu sein? Dann würden wir ja sehen, ob er jetzt auftauchte!
    Es war eine kalte, windstille Nacht, der Himmel war noch immer bedeckt, aber hier und da rissen die Wolken auf und enthüllten bleiche Sternenspritzer. Ich sah hinunter in die Tiefe, in das Nichts, das zwischen mir und der nebelverhüllten Straße lag, und fühlte, wie mir schwindlig wurde.
    Ich war schon öfter an erhöhten Punkten gewesen, auch an Orten, die höher lagen als dieses Fenster: Erst vor zwei Jahren hatte ich mich während eines Irland-Urlaubs über die Klippen von Moher gelehnt, um aus zweihundert Meter Höhe auf das stürmische Meer zu schauen. Aber dazu hatte ich auf dem Bauch gelegen, und nicht gestanden wie jetzt, mit nichts weiter als kalter Luft zwischen mir und dem Nichts. Ich sah, wie die Welt sich in ihrem Umlauf auf einer Seite krümmte, und schreckte ängstlich zurück.
    Dabei verlor ich rückwärts taumelnd das Gleichgewicht. Ich warf mich instinktiv nach vorn, um mich am Fensterrahmen festzuhalten. Ich verfehlte ihn.
    Ich erinnere mich nicht genau an diesen Augenblick, oder nur als eine Art leere Blase, die sich in mir öffnete. Aber ich erinnere mich genau an die Explosion, die mein Blut aufwallen ließ, in dem Moment, als meine Füße das Fensterbrett verließen. Die funkelnden Lichter der Nacht, die sich überall um mich herum entzündeten, blendeten und überwältigten mich. Ein Fuß zappelte schon im Leeren, der andere fand für einen Sekundenbruchteil Halt und stieß mich ab.
    Nach vorn und oben, durch die pfeifende Luft, nach oben, in Richtung Sterne.
    Mit dumpfem Aufprall und dem Knirschen von Ton landete ich mit Händen und Füßen auf einer unregelmäßigen Oberfläche. Ich verharrte unbeweglich, zu verdutzt, um mich umzusehen; die Sekunden vergingen, dann kam ich langsam auf die Beine. Ich befand mich auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses.
    Vor mir tauchte aus dem Dunkel ein Meer von Dächern auf, ein gefrorener Ozean mit unregelmäßigen Wellen, aus denen Dachluken und Schornsteine hervorstaken. Das offene Fenster meines Zimmers starrte mich an, schwarz und leer, ein gutes Stück weiter unten. Ich war sechs oder sieben Meter in der Diagonale nach oben gesprungen. Wahrscheinlich sogar mehr.
    Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse, mit den Augen dieses unglaubliche Panorama abtastend. Die Wolken über mir schienen aus sich überlagernde Perlmuttschichten zu bestehen und von einem diffusen Licht aus den Tiefen des Himmels angestrahlt zu werden. Wo keine Wolken waren, leuchtete ein sommerliches Meerblau mit einigen winzigen Muschelsplittern in der Gestalt von Sternen. Die Straße unter mir war ein Strom aus Nebel, der langsam dahinfloss, ein Fluss aus milchigem Dampf und Schatten.
    Wo immer ich hinschaute, stellte sich mir jedes einzelne Detail scharf, als würden die Entfernungen keine Rolle mehr spielen: Ich konnte jede dunkle Kluft überbrücken, die Ziegel des Schornsteins eines weit entfernten Hauses zählen, dem Flug eines Nachtvogels

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