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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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überquerte.
    Ich ging ans andere Ende des Daches, machte die kürzeste Strecke aus und legte schnell den letzten Teil des Weges zurück, der mich von meinem Ziel trennte: Der Gasse, in der ich den Mann mit den Schlangenaugen getroffen hatte.
    Ich landete auf einem der Einfamilienhäuser mit den baumbestandenen Gärten und spürte, noch bevor ich sie sehen konnte, die Bewegung in der Straße unter mir; ich kauerte mich am Dachrand nieder und beugte mich vor, um über eine kahle Baumkrone zu blicken, die mir die Sicht auf die Straße versperrte. Der Bettler stand unter mir in der Dunkelheit: Obwohl es in dieser Straße nicht einmal eine Straßenlampe gab, war er dank des orangefarbenen Lichtkranzes – von dem ich inzwischen wusste, dass er auf Lebewesen hindeutete – leicht auszumachen. Er redete mit sehr leiser Stimme und heftig gestikulierend auf zwei Gestalten ein, die ein menschliches Auge vor dem schwarzen Hintergrund kaum wahrgenommen hätte. Ich aber sah sie sofort; sie strömten keinerlei Licht aus.
    Ich spitzte die Ohren, aber es gelang mir nicht, etwas zu hören: War es möglich, dass die drei so leise sprachen, dass es selbst den feinen Sinnen entging, über die ich jetzt verfügte?
    Einen Moment später bewegten sich die schwarzen Männer vor meinen Augen mit der geisterhaften Gangart, die ich nun schon an ihnen kannte. Sie traten nach vorn, während der Bettler zurückwich und sich mit den Schultern an die Mauer presste. Seine Gebärden wurden jetzt noch frenetischer, er schüttelte heftig den Kopf, und als einer der beiden eine Hand nach ihm ausstreckte, bedeckte er mit überkreuzten Armen sein Gesicht.
    Ich machte einen Satz nach vorn, durchschnitt den Raum, der uns trennte, und landete auf dem Asphalt, direkt hinter den schwarzen Gestalten, die sich sofort umwandten, um sich mir entgegenzustellen. Ich spürte, wie meine Augen brannten, aber für einen so kurzen Augenblick, dass sich nicht einmal Tränen bildeten. Ich ballte die Fäuste, bleckte die Zähne und knurrte.
    Die beiden wechselten einen Blick, auf ihren ausdruckslosen Gesichtern zeigte sich ein Anflug von Überraschung oder auch Unentschlossenheit. Ich öffnete den Mund, um ihnen zu sagen, dass sie verschwinden sollten, aber statt der Worte kam nur ein dröhnendes Brüllen heraus.
    Einer der beiden Männer zeigte mit einem Finger auf mich, aber ich nahm mir nicht die Zeit, zu verstehen, was er vorhatte: Ich stürzte mich auf ihn, mit ausgestreckten Armen, aber er wich mir rasend schnell aus und meine Hand verfehlte ihn. Oder besser, sie verfehlte seinen Körper: Sie mähte durch den flatternden Saum seiner Tunika und riss sie in Fetzen. Ich nahm mein Opfer fest ins Visier und sah, wie sich auf seinem Gesicht ein Ausdruck breitmachte, den ich dort nicht erwartet hätte: Angst.
    Ich brüllte nochmals, noch lauter als vorher, ein Geräusch, das in meinen Ohren kein bisschen menschlich klang. Die beiden Gestalten wichen überstürzt zurück, trennten sich sofort und verschwanden in wenigen Augenblicken in entgegengesetzte Richtungen.
    Ich blieb noch für einige Sekunden in Angriffsposition, fast als erwartete ich, dass sie unvermittelt wieder auftauchten; dann richtete ich mich auf und wandte mich dem Bettler zu, der am Boden kauerte und das Geschehen durch die immer noch vor dem Gesicht verschränkten Armen hindurch beobachtet hatte.
    Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme versagte. Ich hustete und räusperte mich, dann versuchte ich es nochmals.
    »Es ist alles in Ordnung. Sie sind weg.«
    Er senkte die Arme und nickte ruckweise, aber als ich einen Schritt auf ihn zu machte, krümmte er sich umso mehr zusammen und riss entsetzt seine Schlangenaugen auf.
    Ich blieb stehen, wo ich war.
    Sekunden des Schweigens vergingen, während ich nach einem geeigneten Gesprächsbeginn suchte.
    »Die schwarzen Männer …«, sagte ich endlich. »Wollten sie dir wehtun?«
    Der Bettler rang ein paarmal nach Luft, bevor er seine Stimme wiederfand. »Ja.«
    »Warum?«
    Er machte eine resignierte Geste. »Wenn ich … Wenn ich die Dinge nicht finde, die sie von mir wollen, werden sie nervös. Sie werden böse.«
    »Und was wollen sie von dir?«
    »Viele Dinge. Manchmal Essen. Das Essen der Menschen. Einigen von ihnen schmeckt es. Süßigkeiten, auch gekochte Sachen … Dinge, die die Menschen machen und die sie nicht machen können. Oder auch Nachrichten.«
    »Und was wollten sie heute Nacht von dir?«
    Seine Stimme schrumpfte zu einem Flüstern.

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