Die zwei Monde: Roman (German Edition)
folgen, der sich hoch über mir am leuchtenden Himmel dunkel abzeichnete.
Ich atmete tief ein und warf den Kopf zurück, alle meine Sinne vibrierten in einem unbeschreiblichen Taumel: Die Gerüche der Nacht strömten auf mich ein – der Rauch der Fabriken, Zement, überhitztes Metall –, ich hörte in der Ferne den Verkehrslärm der Innenstadt, das elektrische Summen der Straßenlampen, und noch weiter weg, an den Grenzen meiner Wahrnehmung, das tiefe Dröhnen der Motoren vom Flughafen.
Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand, es gibt keine Worte dafür, in keiner Sprache der Menschen. Denn gewisse Erfahrungen sind nicht für das menschliche Herz gemacht.
Ich begann, auf die höchste Stelle des Dachs zuzulaufen, mit nackten Füßen und so leichten Schritten, dass die Ziegel unter mir nur sanft vibrierten. Ich fühlte keine Kälte mehr, keine Wut und keine Angst: Nur ein nicht zu bremsendes, überschwängliches Bedürfnis, unter den silbernen Augen des Himmels bis zur Atemlosigkeit zu rennen.
Ich übersprang den höchsten Punkt des Dachs, kam auf der anderen Schrägseite auf und sprang weniger als einen Meter vom Rand entfernt ins Leere. Ohne nachzudenken, ohne vorher zu schauen, völlig instinktiv, mit offenen Armen und dem Gesicht im Wind.
In einem einzigen Bewegungsfluss flog ich wie ein Pfeil über die Straße, die noch breiter war als die vor meinem Wohnhaus, landete auf dem nächsten Dach und rannte weiter. Vielleicht habe ich dabei gelacht, aber es war mir nicht bewusst. Es gab nur noch das schwarze Meer der Dächer, ein schwindelerregendes Gefühl der Freiheit und meine Füße, die durch die Nacht flogen.
In den ersten Minuten rannte ich einfach drauflos, ohne zu schauen, wo ich hinlief, nichts anderes zur Kenntnis nehmend als das nächste Dach und den Sprung, der nötig war, um es zu erreichen. Aber irgendwann nahm ich wieder ein wenig Vernunft an. Ich atmete schnell, aber nicht schwer, wie nach wenigen Bahnen im Schwimmbad: Meine Muskeln und meine Lunge signalisierten mir, nicht stehen zu bleiben, sondern weiterzulaufen, als wäre dies bis in alle Ewigkeit möglich. Es war ein berauschendes Gefühl.
Mit einem Satz erreichte ich einen weiteren Dachfirst und blieb auf den Fersen kauernd sitzen, um mich umzusehen: Ich musste irgendwo im Zentrum sein, denn nicht weit entfernt zu meiner Linken sah ich die vielen kleinen Türme des Doms. Hatte ich wirklich einen so langen Weg zurückgelegt? Einfach so? Unmöglich. Ich konnte es einfach nicht glauben.
Und jetzt? Das Gefühl grenzenloser Freiheit überfiel mich von Neuem, aber diesmal war ich mir wieder meiner selbst bewusst und mir wurde schwindlig.
Mailand lag unter mir, eine Fata Morgana aus Dächern und Nebel, so, wie nur sehr wenige Menschen es jemals zu sehen bekamen: Ich konnte überallhin, jede Ecke der Stadt erreichen. Ich konnte auf die Türme des Doms springen und an ihnen herunterrutschen, um den surrealen Figuren ins Gesicht zu sehen, von denen der Conte mir erzählt hatte; ich konnte auf dem Dach meiner Schule herumrennen, ich konnte zum Haus des Conte mit seinen hohen und schmalen Fenstern fliegen und dem Conte praktisch auf dem Kopf herumlaufen.
Plötzlich musste ich daran denken, was er wenige Stunden zuvor gesagt hatte: Ich werde ein Fenster für dich offen lassen. Ich musste laut auflachen.
Wieder einmal hatte der Conte alles im Voraus gewusst.
Aber ich konnte ihm keinen Besuch abstatten, nicht heute Abend, denn mir wurde plötzlich klar – zugegeben zum ersten Mal, seit ich mein Zimmer verlassen hatte –, dass ich nur meinen türkisfarbenen Schlafanzug am Leib hatte. Auch das brachte mich wieder zum Lachen.
Dann schoss mir ein neuer Gedanke durch den Kopf, und ich machte mich auf den Weg zur Metro-Station in der Nähe meiner Schule. Unter rationalen Gesichtspunkten wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, sich in diesem Nebelmeer von den Dächern aus zu orientieren: Und doch, sobald ich den Gedanken im Kopf hatte, wusste ich automatisch, wohin ich mich zu wenden hatte, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
Ich ließ zu, dass mein Instinkt jeden meiner Sprünge und Läufe bestimmte, und landete schneller als erwartet am gewünschten Ort. Vom Sims des Daches aus sah ich hinunter: ein weiter und stiller Platz, Nebelschleier, die meine neuen Augen mit Leichtigkeit durchdrangen, von einem gelblichen Schein umrahmte Straßenlampen, ein leerer Fußweg, ein einzelnes Auto, das die verlassene Kreuzung
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