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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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konnte mich ihnen nicht entgegenstellen, nicht in dieser Verfassung, diesem Zustand der Schwäche und Verletzbarkeit. Das Tier, in dem ich mich niedergelassen hatte, war eine sehr bescheidene Hülle, meiner unwürdig, wenig mehr als ein Wrack; und sie hatten mich gefunden, im Moment größter Schwäche. Sie würden mich einholen, mich mit ihren Peitschen schlagen, mich fesseln und ausstoßen. Und ich würde auf ewig in der endlosen Leere treiben, in der eisigen Dunkelheit, die die Zwischenräume zwischen den Welten füllt, unfähig, voranzukommen, unfähig, umzukehren.
    Nein, nicht schon wieder, nicht diesmal! Alles, nur nicht die Leere.
    Ein leichtes Drehen des Windes trug mir einen Geruch zu, der mich herumschnellen ließ: Jemand kam aus einer Seitengasse in meine Richtung gelaufen, stolpernd und schluchzend. Es war ein Mädchen, und sie roch nach Rauch, Alkohol, Minze und junger Haut.
    Ein menschlicher Körper, völlig intakt. Schnelle Beine, scharfe Augen.
    Ich spurtete los und war innerhalb von drei Atemzügen in der Gasse, in der sie sich befand. Sie lehnte mit der Schulter an einer Wand, als ob sie eine Stütze brauchte, um sich auf den Beinen zu halten; sie trug eine Lederjacke und einen schwarzen Schal um die Schultern. Ihre Haare waren kurz und zerzaust, ihre Haut weiß und ihre Lippen hatten die Farbe von Blut. Sie weinte, in fast stummen Schluchzern, die sie von Kopf bis Fuß schüttelten.
    Ich blieb unbeweglich stehen, sie hatte mich noch nicht bemerkt. Ich sah, wie sie sich die Augen mit dem Handrücken wischte und sich selbst einen Ruck gab, um wieder auf die Beine zu kommen, sie torkelte und krachte mit den Schultern bleischwer zurück an die Mauer. Sie weinte von Neuem, mit gesenktem Kopf, diesmal lauter.
    Hinter mir rief eine tiefe, autoritäre Männerstimme: »Ich habe ihn aus den Augen verloren, ich sehe ihn nirgends mehr!«
    »Er ist da reingelaufen!«, rief eine andere Stimme zurück, sie schien jünger und seltsam vertraut.
    »Seid still! Ich höre was.«
    »Da weint jemand …«
    »Da ist jemand in der Gasse! Ein Mensch! Ich habe ein menschliches Wesen gefunden!«
    Ich hatte keine Zeit mehr. Ich musste zubeißen, mich aus diesem Körper befreien und mich in einen anderen stürzen, um dann loszulaufen und zu flüchten mit aller Kraft, die mir noch geblieben war.
    Ich stürzte vorwärts mit einem Heulen, das sich meiner Kontrolle entzog, ein unartikuliertes Getöse, in dem alle Wut, aller Schmerz und alle Erschöpfung lagen, die ich in mir hatte. Das Mädchen hob plötzlich den Kopf, sah mich, riss entsetzt die Augen auf und wich zurück, aber da war ich schon über ihr und schnappte zu …
    Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und setzte mich keuchend auf. Dann fiel ich wieder auf mein Bett zurück.
    Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich hatte von der Nacht meines Überfalls geträumt. Aus Sicht des Wolfs.
    Ich zwang mich zu einer Denkpause, bis sich mein Herz einigermaßen beruhigt hatte; als ich mich dazu in der Lage fühlte, stand ich auf und machte das Licht an. Der Conte hatte auch darin recht behalten: Der Werwolf war verfolgt worden. Jemand hatte ihn durch die Straßen der Stadt gejagt. Jemand, der offensichtlich wusste, wie er ihn finden, erkennen und überwältigen konnte. Jemand, der eine Waffe bei sich trug, die der Wolf mehr fürchtete als alles andere: die geheiligten Riemen der Lupercalien. Der Wolf hatte sie auf Anhieb erkannt: Ich war in seinem Geist gewesen, ich hatte sein Entsetzen gespürt, als wäre es mein eigenes gewesen … Es war mein eigenes gewesen.
    Ich setzte mich auf den Bettrand. Wie war das möglich? Wurden die Riten immer noch zelebriert? Nach zweitausend Jahren? Ziegenopfer und Blutsalbungen im Keller eines Mailänder Wohnhauses. Ich musste fast lachen und schüttelte den Kopf: Nüchtern betrachtet war es nicht absurder als der ganze Rest. In dieser Welt, in die ich hineingeraten war, gab es nichts , das noch Sinn machte.
    Nein, nicht hineingeraten: gewaltsam hineingestoßen. In den Knöchel gebissen und hineingezerrt, wie ein Tier ein Stück Fleisch in seine Höhle zerrt, um es zu verschlingen.
    Ich sprang aus dem Bett und begann, ruhelos auf und ab zu gehen. Ich durfte nicht wieder mit diesen endlosen Grübeleien anfangen: Es würde zu nichts führen, außer zu totaler Niedergeschlagenheit.
    Ich fühlte eine nervöse Energie in den Beinen, die mich keine Ruhe finden ließ, so als würden in meinen Adern noch immer Überreste der wilden Wut des Wolfes

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