Die zwei Monde: Roman (German Edition)
die nicht mehr existiert.«
»Und was wollten sie von mir?«
»Ich weiß es nicht.« Er stand auf und stellte sich an die Tür. »Meide Orte ohne Licht, Veronica. Und meide vor allem die Umgebung von Friedhöfen. Halte dich bestmöglich von ihnen fern.«
Eine neue Flut von Fragen stieg in mir hoch, aber eine namen lose Angst hinderte mich daran, auch nur eine von ihnen zu stellen.
Ich brauchte Zeit, um ruhiger zu werden und klar zu denken.
Der Conte begleitete mich zur Eingangstür, aber bevor ich hinausging, drehte ich mich noch ein letztes Mal um. »Warum ich, Conte Gorani. Warum bin ich ausgewählt worden?«
Er schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Willst du mich damit fragen, warum du dich in jener Nacht in dieser Gasse befunden hast? Warum du und niemand anders? Weil die Dinge einfach geschehen, und basta. Wenn ein Kind mit geschlossenen Augen Steine in den Wald wirft, wird nun mal ein Baum getroffen. Warum dieser Baum und nicht ein anderer?«
Ich wickelte mich eng in meine Lederjacke und ging mit gesenktem Kopf zum Aufzug. Der Conte verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, eingerahmt vom Licht der Tür. Ich sah, dass er schon wieder lächelte.
»Ich werde ein Fenster für dich offen lassen, Veronica.«
Bevor ich ihn fragen konnte, was das heißen sollte, schlossen sich die Aufzugtüren vor mir.
K apitel 16
Mittwoch, 18. Februar
A n diesem Abend hatte ich vor dem Schlafengehen eine Idee. Der Conte hatte recht: Mir war schon einmal aus eigener Initiative der Zugang zu den Träumen des Wolfs gelungen, mit der mentalen Yogaübung aus dem Buch meiner Mutter. Das Buch hatte ich wieder an seinen Platz gestellt, aber an die Technik erinnerte ich mich noch sehr gut. Und wenn ich eine ganz bestimmte Erinnerung suchen würde? Zum Beispiel die Erinnerung an die Nacht, in der ich gebissen worden war?
Auch diesmal war es einen Versuch wert.
Ich löschte das Licht, legte mich hin und wiederholte penibel die ganze Prozedur: die Kontrolle des Atems, die Formierung des Lichtsymbols über dem Herzen, das Mantra, das ich im Geiste im immer gleichen Rhythmus immer wieder wiederholte.
Auch dieses Mal hatte ich das Gefühl, in ein dichtes und nachgiebiges Dunkel zu versinken, bevölkert von Stimmen ohne Worte, die aus verschiedenen Richtungen nach mir riefen.
Mir wurde bewusst, dass es auch diesmal leicht, sehr leicht gewesen war … Zu leicht. Das konnte nicht allein mein Verdienst sein: Es war nicht nur ich, die sich auf die Erinnerungen des Wolfes zu bewegte. Vielmehr bewegte sich der Wolf auch auf mich zu. Er gewährte mir Zugang zu seinem Geist. Er wollte , dass ich seine Erinnerungen kennenlernte.
Wie beim ersten Mal hörte ich die Rufe von allen Seiten und einen Ruf, der sehr viel näher schien als alle anderen. Und schlagartig realisierte ich, wie diese Art Vorhölle, in der ich mich befand, funktionierte: Um mich an die Riten des Lupercals zu erinnern, die vor zweitausend Jahren abgehalten wurden, war ich scheinbar aus einer enormen Höhe in die Tiefe gesunken; vielleicht war also mit einem Ruf, der aus der Nähe zu kommen schien, eine naheliegende Erinnerung verbunden.
Ich spürte diesem Ruf nach, folgte ihm, ließ mich von ihm davontragen, und plötzlich riss mit blendender Klarheit die Erinnerung vor mir auf, als würde mit einem Ruck ein Vorhang aufgezogen, um ein lichtdurchflutetes Fenster zu enthüllen.
Ich rannte, in tiefsten Nebel getaucht, mein Herz klopfte wild gegen die Rippen. Unter mir die kalte, harte Oberfläche des Asphalts, um mich herum die Fassaden der Gebäude, kaum sichtbar im Dunst, und hinter mir Stimmen und eilige Schritte. Fragmente von atemlos hingeworfenen Worten drangen wie Splitter durch die dichten Nebelschwaden an mein Ohr, und ich wusste, dass sie immer näher kamen.
Ich fühlte einen Schmerz an der Hüfte, einen heftigen, stechenden Schmerz, wie von einem Messerstich. Aber was mich verletzt hatte, war kein Stahl: Von einer solchen Wunde wäre ich in wenigen Minuten genesen. Diese jedoch brannte wie Feuer …
Mit einem Satz sprang ich über eine Bank und blieb einen Moment lang stehen – einen ganz kurzen, wertvollen Moment lang –, um mich umzusehen: Drei oder vier meiner Verfolger zeichneten sich in der Ferne ab, im dichten Nebel waren kaum mehr als orangefarbene Umrisse zu erkennen. Zwei von ihnen rannten weiter vorn als die anderen, ich hörte das Leder der heiligen Riemen auf den Asphalt knallen, ein Geräusch, das mir schier das Trommelfell zerriss.
Ich
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