Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
Vom Netzwerk:
Händen. »Das ist die wahrscheinlichste Schlussfolgerung.«
    »Aber was sind sie? Kann man sie mit dem Wolf vergleichen?«
    »Nur zum Teil. Es ist gut möglich, dass auch sie in früheren Zeiten menschlich waren. Aber wir sprechen hier von einer Epoche, die so weit zurückliegt, dass die Nebel der Legendenbildung sie schon verschlungen hatten, als sich die menschliche Zivilisation noch in den Kinderschuhen befand.« Er drehte die Tasse in seiner Hand. »Wesen wie die Strigen haben fast immer an der Seite der Menschen gelebt und in der Regel die eigene Gegenwart verborgen. Wie der Wolf fühlen sie sich von uns angezogen, aber im Unterschied zu ihm ist ihr Interesse nicht den Lebenden zugewandt.«
    »Deshalb soll ich mich von Friedhöfen fernhalten.«
    »Richtig. Auf Friedhöfen finden sie, was sie suchen, genauso wie etwa auf Schlachtfeldern, an allen Orten, wo Blutbäder stattgefunden haben, und überall dort, wo der Tod herrscht.«
    Ich versuchte, die aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. »Aber was genau suchen sie? Das Fleisch der Toten, wie die Legende sagt? Das Blut?«
    »Die Erinnerungen.«
    Die Antwort überraschte mich. »Die Erinnerungen?«
    »Das, was das Bewusstsein hinter sich lässt, wenn es definitiv erlischt. Den Abdruck des Geistes auf dem Gespinst der Realität.« Das Unverständnis, mit dem ich ihn ansah, blieb ihm sicher nicht verborgen. »Erinnerst du dich noch, als du im Ossarium meine Hand ergriffen hast?«
    Ich nickte. »Ich habe … so was wie Flüstern gehört. Unendlich viele flüsternde Stimmen.«
    »Der Übergang vom Leben zum Tod ist etwas sehr Komplexes. Wenn ein Sterblicher den letzten Atemzug aushaucht, lässt er vieles in der irdischen Welt zurück: Der physische Teil, sein Körper, ist der evidenteste, aber es gibt andere, feinere Überbleibsel, die nicht jeder wahrnehmen kann. Manchmal, wenn der Tod im Zusammenhang mit einer schrecklichen Emotion erfolgt, ist die psychische Spur so intensiv, dass sie für jedermann sichtbar wird: Das ist der Grund für all die Geschichten von Geistern und Opfern eines gewaltsamen Todes, die aus dem Jenseits zurückkehren und Rache suchen. Aber jeder Tote, auch der anonymste, hinterlässt eine Spur, die, so sie ungestört bleibt, die Zeiten überdauert, durch Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch, sich in einigen Fällen sogar noch verstärkend. Und wer das Talent dazu hat, kann mit ihr in Kontakt treten.«
    »Die Stimmen der Toten hören«, murmelte ich. »Mit den Geistern sprechen.«
    Der Conte setzte sein undurchschaubares Lächeln auf. »Dass es zu einem Gespräch kommt, ist ziemlich selten. Bei den wenigsten Toten ist genug Persönlichkeit erhalten, dass sie einen Dialog führen könnten. Aber wenn man ihnen zuhört, lernt man viele Dinge.«
    Ich versuchte mir vorzustellen, was eine solche Erfahrung beinhalten könnte. »Erzählen sie etwa ihre Lebensgeschichten? Geben sie Erinnerungen an ihr Leben preis?«
    »Nicht nur das. Es gibt viele Geheimnisse, die die Augen der Lebenden nicht durchdringen können und die Lippen aus Fleisch und Blut nicht in der Lage sind zu erzählen …«
    Ich wartete, dass er fortfuhr, aber er schwieg.
    »Und die Strigen … verschlingen diese Geister?«
    Der Conte nickte. »Sie verschlingen die Überreste der Persönlichkeit, bis hin zur kompletten Auslöschung. Daher hast du ganz recht: Man kann sehr wohl sagen, dass sie die Toten verschlingen.«
    »Und warum tun sie das?«, fragte ich mit versagender Stimme.
    »Wer weiß das schon? Vielleicht aus demselben Grund, der den Wolf und ähnliche Kreaturen antreibt, die Welt der Sterblichen immer wieder aufzusuchen: Weil sie den innigen Wunsch haben, herauszufinden, was Menschlichkeit bedeutet, weil sie verstehen möchten, was es heißt, Mensch zu sein.«
    Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Faden meiner Gedanken wiederzufinden. »Aber was wollten sie dann von mir , wenn sie sich nur für die Toten interessieren?«
    »Genau das frage ich mich auch. Möglich ist, dass die Rückkehr des Wolfes sie einfach neugierig gemacht hat: Trotz aller Unterschiede gehört er genau wie sie zur alten Welt, und sie teilen mit ihm die Erfahrung eines Daseins an der Grenze zwischen den Welten. Und ebenso wie es eine Verbindung zwischen allen übernatürlichen Dingen gibt, gibt es sicherlich auch eine zwischen den Strigen und Lupercus.«
    »Und … wie gefährlich sind diese Strigen?«
    Der Conte sah mir fest in die Augen. »Sehr gefährlich, für ein lebendes Wesen.«
    Ich zwang

Weitere Kostenlose Bücher