Die zwei Monde: Roman (German Edition)
Freitagabend: Nach halb elf war bei uns meistens Nachtruhe angesagt. Ich tat so, als wäre ich ebenfalls dabei, schlafen zu gehen, lief im Schlafanzug durch die Wohnung, sagte meiner Mutter Gute Nacht und machte schließlich das Licht in meinem Zimmer aus. Dann blieb ich erwartungsvoll unter der Bettdecke liegen, bis der Wecker Viertel nach elf zeigte, stand in aller Stille auf und stieg in die bereitgelegten Kleider.
Ich hatte mir alles gut überlegt: Ich brauchte Klamotten, die mir Bewegungsfreiheit boten, die präsentabler waren als der Schlafanzug, den ich bei meinem letzten nächtlichen Ausflug getragen hatte, und weniger bunt. Immerhin war Freitagabend, die Straßen würden voller Leute sein, und das Letzte, das ich gebrauchen konnte, war, dass irgendjemand zufällig ein junges Mädchen bemerkte, das von Dach zu Dach hüpfte wie eine Figur aus einem Marvel-Comic!
Also hatte ich mich für eine schwarze, ziemlich weite Hose und ein schwarzes T-Shirt entschieden. Nicht gerade der passende Aufzug für eine Februarnacht, aber inzwischen wusste ich ja, dass der Wolf keine Kälte empfand.
Ich schaltete das Neonlicht im Bad an und starrte verblüfft auf mein Spiegelbild: War das wirklich ich? Die gute alte Veronica, ohne eine Spur von Erschöpfung im Gesicht, mit glänzenden Augen und Alabasterhaut, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet wie eine Dark Lady. Veronica, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Reifer. Selbstsicherer. Schöner.
Ich fühlte mich allmächtig.
Ich riss das Fenster auf, und der Windstoß, der im selben Moment hereinfegte, ließ mich erzittern bis auf die Knochen. Der Himmel war pechschwarz, noch ohne jede Spur von Nebelschwaden. Ich stieg auf das Fensterbrett, sog tief die Luft ein und rief den Wolf. Und diesmal kam er augenblicklich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt: Ich spürte, wie er in mir explodierte, nein, wie er sich in mir öffnete wie die Blüte einer Blume, eine Entladung von Vitalität, die mich durchflutete und mir den Schleier des Alltäglichen vor den Augen wegriss, um die Welt mit Farben und Tönen und Empfindungen zu füllen.
Fast ohne es zu merken, fand ich mich auf dem Dach gegenüber wieder, und wie in der Nacht zuvor rannte ich mit dem Wind, während mein Herz so heftig schlug, als wolle es in meiner Brust explodieren. Nicht aus Überlastung oder Angst oder Wut, sondern aus simpler, reiner, unbändiger Freude. Schneller als ich erwartet hatte, war ich beim Haus des Conte gelangt: Da lag es vor mir, auf der anderen Straßenseite, mit seiner altmodischen Fassade und den schmalen, aneinandergereihten Fenstern, von denen eines offen stand. Offensichtlich war jemand zu Hause: Ich konnte eine Art Schimmer erkennen, der sich im Dunkel bewegte und der heller und sanfter war als der orangefarbene Lichtschein, den ich inzwischen kannte.
Ich überquerte die Straße und landete auf dem Fensterbrett. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, klammerte ich mich mit beiden Händen ans Fensterbrett und kletterte ins Innere. Für die Augen des Wolfes war das Halbdunkel wie Tageslicht. Die zahllosen Dinge, die den Museumssalon bevölkerten, hoben sich klar und farbenfroh vor der holzvertäfelten Wand ab.
Die schimmernde Gestalt, die ich erahnt hatte, machte sich gerade am Tisch zu schaffen. Bei meinem Eintreffen hob sie vollkommen ruhig den Kopf, so als ob sie mich erwartet hätte: Es war Regina. Sie trug ein graues Kleid, das so unförmig war wie alle Kleider, die ich bisher an ihr gesehen hatte, aber ihre Haut war von einem weißen, fast silbrigen Licht übergossen, das mich unwillkürlich an eine Wasseroberfläche im Mondlicht denken ließ. Auch die Blumen in ihren Haaren funkelten wie ein Wasserfall aus winzigen Sternen, jeder einzelne entzündet von einem Glanz, der aus den Blütenblättern selbst zu strömen schien. In der Luft hing ein intensiver Duft, der mir unbekannt war und an Rose und Geißblatt erinnerte, aber keinem von beiden ganz entsprach. Und dieser Duft kam, ganz klar, von ihr.
Wir sahen uns einen langen Moment an, ich ganz bezaubert von ihrer Verwandlung, sie mit dieser Mischung aus Beklemmung und dem stummen, aber drängenden Bedürfnis, mir etwas mitzuteilen. Dann ging die Tür auf, und Conte Gorani, in einen barock anmutenden, dunkelroten Schlafrock gehüllt, hielt Einzug. Ich hätte niemals gedacht, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert noch jemanden gab, der so etwas tragen oder auch nur besitzen würde.
»Willkommen, Veronica.«
Als wäre sie
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