Die zwei Monde: Roman (German Edition)
mich, unbeweglich zu bleiben. Vor kaum zwei Stunden hatte ich in den Spiegel gesehen und mich unbesiegbar gefühlt; jetzt wusste ich, dass mir nicht nur heilige Jäger auf den Fersen waren, sondern auch eine Horde monströser Kreaturen, die die Macht hatten, meine Seele zu verschlingen.
Der Conte sah mich weiter an, unerschütterlich wie immer.
»Was kann ich jetzt tun? …«
»Aufpassen, und dich verteidigen, wenn es notwendig wird.«
»Mich verteidigen?« Das Wort hatte einen seltsamen Klang, sogar für meine Ohren.
»Veronica, du bist der Wolf . Denkst du, das ist bedeutungslos? In der Antike hätte man gesagt, dass du von einem Gott berührt wurdest. Mit der Zeit werden deine Stärken immer mehr zunehmen, und deine Sinne mit ihnen. Schon jetzt siehst du so gut, wie du nie zuvor gesehen hast, und es wird dir nicht entgangen sein, dass diese Fähigkeit wächst.«
Ich dachte darüber nach und merkte, dass er recht hatte: Das erste Mal, als ich Regina durch die Augen des Wolfes gesehen hatte, war sie von dem orangefarbenen Lichtschein umhüllt gewesen, der auch alle anderen umgab, aber heute Abend hatte ich noch viel mehr in ihr gesehen.
»Das Wesen, das in dir lebt, gehört zur Welt des Immateriellen«, fuhr der Conte fort. »Wenn du lernst, seine Sinne zu gebrauchen, wirst du Dinge entdecken, die weit über deine Vorstellungskraft hinausgehen: Du wirst die Spinnweben der Existenz sehen, die den Himmel und die Erde verbinden, du wirst die Vibration des menschlichen Herzens spüren, du wirst die geheimen Türen der Realität erkennen. Die Luperci können dir wehtun, denn sie kennen die richtigen Symbole, aber du bist ihnen nicht schutzlos ausgeliefert. Vergegenwärtige dir, dass sie versuchen werden, dich tagsüber anzugreifen, weil der Wolf in der Nacht stärker ist. Und das ist alles andere als einfach im Herzen einer Großstadt. Was die Strigen betrifft, so folge meinem Rat und vermeide die lichtlosen Orte: Noch mehr als das unterirdische Volk lieben sie die Dunkelheit, und spärlich beleuchtete Friedhöfe sind ihre natürlichen Aufenthaltsorte. Für alles andere folge deinem Verstand und deinem Instinkt, und vergiss nicht, dass ich immer für dich da bin.«
Ich gehorchte sofort: Ich folgte meinem Instinkt und warf ihm die Arme um den Hals. Der Conte war so überrascht von dieser überschwänglichen Geste, dass er ganz steif wurde. Ich musste lachen, aber ich ließ ihn nicht los.
»Danke«, murmelte ich, die Stirn an seine Schulter gelehnt.
Mit einem langen Seufzer entspannte er sich und legte mir ganz sacht eine Hand auf den Rücken. Ein paar Sekunden lang blieben wir so stehen, dann löste ich mich von ihm: Ein seltsamer Ausdruck lag in seinem Gesicht, aber ich konnte ihn nicht dazu bringen, mir in die Augen zu sehen.
»Trink deine Schokolade und geh dann nach Hause«, mahnte er mich mit ruhiger Stimme. »Ich muss annehmen, dass deine Eltern im Hinblick auf deine nächtlichen Ausflüge nicht auf dem Laufenden sind, und sollten sie davon Wind bekommen, würden die Konsequenzen sicherlich niemandem gefallen.«
K apitel 19
Samstag, 21. Februar
Abnehmender Mond
I ch verbrachte den ganzen Vormittag damit, mit Irene im Flüsterton zu diskutieren, was ich zu der Verabredung mit Ivan anziehen sollte. Wir überlegten, bewerteten, sortierten aus und kamen am Ende zu dem übereinstimmenden Urteil, dass meine desolate Garderobe nur zwei oder drei Möglichkeiten ließ, die es wert waren, in Betracht gezogen zu werden. Also verabredeten wir, dass ich am Nachmittag alle gemeinsam erdachten Kombinationen durchprobieren würde, um mich dann mit dem Handy selber zu fotografieren und die Fotos mit ihr auf MSN zu begutachten.
Als ich mich nach dem Unterricht am Schultor von Irene trennte, merkte ich plötzlich, dass Alex nur wenige Schritte hinter mir war. Ich drehte mich um, und wir musterten einander. Er war allein: keine Angela und Gefährtinnen, keine übliche Freundesclique. Mir fiel wieder ein, dass die drei Grazien auch am Tag zuvor in der Pause ohne Jungs im Schlepptau herumgelaufen waren. Ich hatte mir aber zunächst keine weiteren Gedanken darüber gemacht.
Es war Alex, der mit einem »Hallo« das Schweigen brach.
Er war nervös, ich hatte ihn noch nie so gesehen und es gefiel mir nicht.
»Hallo.«
»Hör mal … Es tut mir leid.«
Mein Herz rutschte zwei Etagen tiefer, und das Einzige, was ich herausbrachte, war ein »Was denn?«.
»… alles. Wegen neulich. Wie die Dinge zwischen uns gelaufen
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