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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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weggeschickt worden, zog Regina sich umgehend zurück und verschwand, ohne mir die Zeit zu lassen, das Wort an sie zu richten. Erst da bemerkte ich, dass der Tisch gedeckt war: zwei Gläser, ein Teller Kekse, eine Karaffe mit Milch und zwei dampfende Tassen Schokolade. In der Mitte stand eine Vase mit einem kleinen Strauß blauer Veilchen.
    Der Conte folgte meinem Blick. »Mach es dir bequem. Offensichtlich war Regina der Meinung, dies sei ein guter Abend für eine heiße Schokolade. Und ich habe nicht die Absicht, ihr zu widersprechen.«
    Ich merkte, dass er meine nackten Arme anstarrte, und fühlte mich seltsamerweise peinlich berührt. Das Zimmer war gut geheizt, die Temperatur war sogar angenehmer als in meinem Schlafzimmer. Dieser Gedanke machte mir schlagartig bewusst, dass der Wolf sich schon wieder verabschiedet hatte. Es hatte genügt, nicht mehr an ihn zu denken, und schon hatte er sich wie ein diskreter Diener schweigend entfernt. Ich schüttelte den Kopf: War das alles schon so natürlich für mich geworden?
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte der Conte.
    »Nein, nein. Nichts.« Ich setzte mich und warf einen staunenden Blick auf Kekse und Schokolade. Dann nahm auch der Conte Platz. »Es ist Regina, die immer alles vorbereitet, stimmt’s?«, sagte ich zu ihm gewandt. »Sie ist es, die weiß, wann und wie ich ankomme.«
    »Ja.«
    »Kann sie in die Zukunft sehen?«
    »Nun, man könnte es so ausdrücken. Aber in Wirklichkeit ist es viel komplexer. Ihr Wesen ist nicht mehr Teil des normalen Vergehens der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wechseln sich vor ihren Augen ab in einer Weise, die für uns unverständlich ist. Versuch mal, es dir in diesen Begriffen vorzustellen.« Er nahm eine Blume aus der Vase. »Was siehst du?«
    »Ein Veilchen.«
    »Dasselbe sehe ich auch. Regina hingegen sieht die Blume und zugleich den Samen, der sie hervorgebracht hat; sie sieht die Wurzel, aus der sie gewachsen ist, und die Samen, die sie später hervorbringen wird. Sie sieht die Blumen, die aus diesen Samen entstehen werden, und gleichzeitig weiß sie, dass sie eine Zukunft sieht, die gar nicht existiert, weil diese Blume gepflückt wurde und ihre Samen nicht zu Boden fallen werden.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Aber wie kann sie dann dessen sicher sein, was sie sieht? Ich meine, wenn sie eine Zukunft sieht, die gar nicht stattfinden kann …«
    »Es gibt nichts, dessen sie sicher ist, und das mit gutem Grund. Vergangenheit und Zukunft bieten dieselbe Gewissheit wie die Träume.«
    Ich schwieg, einen Anker in der Wirrnis suchend: Wie immer hatten die Antworten des Conte die Macht, mich zu beunruhigen und gleichzeitig tausend neue Fragen aufzuwerfen.
    Dann kam mir ein Gedanke. »Conte, woher wissen Sie, auf welche Weise Regina die Dinge sieht, wenn sie es Ihnen nicht erklären kann?«
    Er nickte anerkennend. »Eine gute Frage, Veronica. Eine weise Frage. Die Antwort wäre jedoch geradezu unerhört komplex und würde zu viel deiner wertvollen Zeit beanspruchen. Um es einfach zu machen: Dank unseres langen Zusammenlebens ist es uns gelungen, uns auch ohne Worte recht gut zu verständigen.«
    Ich nickte, ohne mir sicher zu sein, dass ich verstanden hatte. Statt weiter in ihn zu dringen, beschloss ich, zum Grund meines Besuchs zurückzukehren.
    »Conte, Sie wissen, wer den Wolf verfolgt hat, in der Nacht, in der er mich angefallen hat, nicht wahr? Sie wissen, wer diese Jäger sind.«
    »Nein, das weiß ich nicht. Aber ich kann es mir vorstellen. Sie trugen die Peitschen der Luperci.«
    »Ja.«
    »Dann können es nur Luperci sein.«
    »Aber wurden die Riten des Lupercal nicht vor tausendfünfhundert Jahren verboten?«
    »Nur sehr selten in der Geschichte der Menschheit hat es genügt, einen Kult oder einen Ritus zu verbieten, um sein Ende herbeizuführen. Der Mensch, das ist richtig, hat ein kurzes Gedächtnis, aber die Symbole halten sich in den Tiefen seines Geistes mit einer Hartnäckigkeit, die für ihn selbst unverständlich ist. Und auf diese Weise überleben die Traditionen die Jahrtausende.«
    »Also auch die Riten des Lupercus?«
    Der Conte nickte. »Sehr wahrscheinlich. Es wäre nicht die erste heidnische Tradition, die die Christianisierung Europas überlebt hat. Im Gegenteil, die Beispiele lassen sich kaum zählen. Das Christentum hat mit vollen Händen aus den Religionen geschöpft, die ihm vorausgegangen sind, und alles aufgesaugt, was es nicht erfolgreich bekämpfen konnte: Kirchen, die auf antiken

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