Die zwei Monde: Roman (German Edition)
ist?«
»Es ist verdammt spät geworden.«
»Im Ernst?« Auch er sah auf die Uhr. »Wie schade. Soll ich dich heimbringen?«
Nein!, hätte ich antworten wollen. Nein, ich will nicht, dass es schon vorbei ist …
»Danke, ja«, sagte ich stattdessen.
Wir gingen zu seinem Auto, und Ivan lotste uns durch die matt beleuchteten nächtlichen Straßen, auf denen kaum noch jemand unterwegs war.
»Wann sehen wir uns wieder?«, unterbrach er unvermittelt das minutenlange Schweigen.
»Im Schwimmbad.«
»Nur dort?«
Ich grinste vor mich hin. »Nein. Nicht nur dort, wenn du willst.«
Er schwieg wieder für einen langen Augenblick. »Am nächsten Mittwoch sehe ich mir vormittags eine spätantike Krypta im Zentrum an. Es ist die erste, die ich für meine Abschlussarbeit besichtigen muss. Hast du Lust, nach Schulschluss vorbeizuschauen? Von deiner Schule aus sind es nur vier Haltestellen mit der Metro.«
Mein erster Gedanke war, dass ich dann zu spät nach Hause kommen würde. Mein zweiter, dass ich ja immer noch eine Ausrede erfinden konnte.
»Ich werde da sein.«
Er lächelte und nickte, immer noch ohne mich anzusehen, die Augen auf die Straße geheftet. »Dann warte ich also auf dich.«
»Wo befindet sich diese Krypta?«
»Piazza Missori. Sie ist alles, was von der Kirche San Giovanni in Conca noch übrig ist.«
»Und was ist so besonders daran?«
»Oh, das wirst du verstehen, sobald du sie siehst.« Er zögerte, als wäre er nicht sicher, ob er das Gespräch fortsetzen wollte. Wahrscheinlich hatte er Angst, mich zu langweilen. »Sie ist sehr alt; in ihrem Inneren wurden Fragmente von Mosaiken und Skulpturen aus dem vierten Jahrhundert gefunden. Einer Mailänder Legende nach war die Krypta ein Mithräum, bevor man darüber eine Kirche gebaut hat.«
»Ein was?«
»Ein Mithräum, ein unterirdischer Tempel, der dem Gott Mithras geweiht ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Von dem habe ich noch nie gehört.«
»Das ist eine Gottheit aus dem Vorderen Orient, persischer Herkunft wahrscheinlich. Sein Kult war in den ersten Jahrhunderten nach Christus im Römischen Reich weitverbreitet; vor allem unter römischen Soldaten war er sehr populär. Es handelt sich um einen Mysterienkult, der aus geheimen Zeremonien und Ritualen besteht und zu dem nur wenige Initiierte zugelassen waren. Die Feiern fanden immer unter der Erde statt, entweder in natürlichen Grotten oder eigens dafür ausgehöhlten Räumen.« Er schwieg einen Moment. »Mithras war der Vater des Lichts, der Gott, der am Ursprung der Welt die Dunkelheit und ihr wildes Getier unterworfen hatte; seine Getreuen hatten geschworen, ihr Leben dem Kampf gegen das Böse in allen seinen Ausformungen zu widmen. Aus diesem Grund liebten gerade die Krieger diesen Gott.«
Ich dachte, dass einer wie er kein geeigneteres Thema für seine Abschlussarbeit hätte finden können. Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als mir aufging, dass wir schon fast an meinem Haus waren, und so bat ich ihn ziemlich abrupt, mich abzusetzen.
Er warf mir einen überraschten Blick zu. »Sicher? Willst du nicht, dass ich dich zur Tür bringe?«
»Nein, mach dir keine Sorgen. Von hier sind es nur noch ein paar Meter zu Fuß.« Es wäre ziemlich unpassend gewesen, wenn er zugesehen hätte, wie ich durchs Fenster einstieg.
»Okay.«
Er fuhr an den Straßenrand, machte den Motor aus und drehte sich zu mir. Ich erwiderte seinen Blick, und mir wurde plötzlich bewusst, dass etwas zwischen uns anders geworden war. Aber was? Wenn ich nur …
Ivan beugte sich zu mir herüber und küsste mich.
Ohne Zögern, ohne Vorwarnung umfasste er mein Gesicht mit den Händen und küsste mich. Der Duft seiner Haut und die Wärme seiner Lippen durchströmten mich, ich spürte seine Zungenspitze an der meinen. Einen Moment lang wurde ich von absoluter Panik erfasst. Aber wirklich nur einen sehr kurzen Moment lang. Dann schmolz ich wie Eis in den Flammen.
Ich kann nicht sagen, wie lange es dauerte. Vielleicht vier Sekunden, vielleicht vier Stunden. Aber es endete völlig unerwartet: Ivan löste sich mit einem Ruck und wich zurück. Ich öffnete die Augen und sah direkt in die seinen, die mich fixierten, und der Ausdruck in ihnen war verwirrt und erschrocken und voll von einer Traurigkeit, die mich wie ein Messerstich traf.
»Entschuldige …«, keuchte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Aber wieso denn? Ich hab dich doch nicht …«
»Geh, Veronica!«, unterbrach er mich und starrte durch die
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