Die Zweierbeziehung
In der Literatur wird oft von den Autoren eine willkürlich wertende, wenig reflektierte Haltung eingenommen. Bald ist der psychosomatisch Kranke derjenige, der sich mit der Symptomkrankheit Vorteile von der Umgebung verschafft – man nennt diese Vorteile «sekundären Krankheitsgewinn» –, bald ist der psychosomatisch Kranke das Opfer seiner Umgebung, derjenige, der stellvertretend für seine Angehörigen den neurotischen Konflikt austrägt. Bald tyrannisiert der Symptomträger seine Umgebung mit seiner Krankheit, bald erkrankt er als Erster, weil er das schwächste Familienglied ist. Bald heißt es vom Symptomträger, er entledige sich mit der Krankheit der familiären Sorgen, bald wiederum er sei derjenige, der der Familie gegenüber am loyalsten sei und sich am ernsthaftesten am Familienkonflikt engagiere und deshalb dekompensiere. Bald wirft man ihm vor, er verstecke in der psychosomatischen Abwehr den eigentlichen Konflikt, bald hält man ihm zugute, er bringe mit seinem Krankheitsangebot die Ehe oder Familie in Behandlung.
Ich glaube, dass man die Frage von Schuld und Verdienst bei Familien- und Ehekrankheiten mit einer dialektischen Betrachtungsweise am besten beantworten kann. Der Symptomträger und sein Partner, nennen wir ihn «Symptompfleger», stellen sich in der Krankheit zueinander in ein beiderseitiges Verhältnis von Schuld und Verdienst. Schuld und Verdienst des einen und des anderen Partners wiegen sich in einer Ehe wohl meist gegenseitig auf.
Für den
Symptomträger
kann Krankheit etwa Folgendes bedeuten: Er wird von den familiären und beruflichen Anforderungen, Pflichten und Verantwortungen entbunden, er schränkt seinen äußeren Bewegungsraum ein, aber auch sein inneres Erleben zentriert sich auf das Krankheitsgeschehen. Er fühlt sich anderer Konflikte enthoben und von Versuchungs- und Gefahrensituationen dispensiert. Er steht im Mittelpunkt des Interesses der Umgebung, kann sich von dieser passiv abhängig machen, wird bemitleidet, erhält pflegerische Zuwendung, kann auf magische Vorstellungen regredieren und sich von allen Anforderungen freisagen. Er kann sich mittels des Symptoms behaupten und durchsetzen. Das Symptom ermöglicht es ihm, sich von der Kollusion freizusagen: «Ich mach im Konflikt nicht mehr mit, ich bin jetzt krank.» Der Partner kann wütend sein über die Symptombildung und sich verraten oder verlassen fühlen. Er muss sich – oft schuldbewusst – dem Symptom beugen, das die kollusive Situation grundsätzlich auf andere Basis stellt. Der Symptomträger muss andererseits Einschränkungen und Selbstwerteinbußen wegen des Patientenstatus auf sich nehmen. Dem Partner gegenüber kann er sich aber flexibler verhalten: «Jetzt, wo ich krank bin, kann ich nicht mehr so …, ich muss jetzt alles vermeiden, was mich erregen könnte …, da muss ich vieles meinem Partner überlassen …»
Der
Symptompfleger
pflegt oft nicht nur den Kranken, sondern auch dessen Symptom, da auch er durch die Symptombildung einen Schutz und Krankheitsgewinn erfährt. Er kann sich dem Symptomträger gegenüber nachgiebiger verhalten, weil er diesen nicht als vollwertig betrachten muss und weil er vieles, was dieser sagt, als krankheitsbedingt abtun kann. Dadurch, dass er gesund ist, kann er sich dem Kranken überlegen fühlen, er muss aber wegen der Krankheit des Partners viel auf sich nehmen und auf manches verzichten. Im Konflikt kann er sich flexibler verhalten mit Äußerungen wie: «Ich muss eben meine Frau schonen, sie hat’s auf den Nerven …, ich nehme das nicht tragisch, sie ist eben überreizt wegen ihrer Beschwerden …, da darf man nicht alles für bare Münze nehmen, was sie sagt … Du bist eben krank und gehörst in Behandlung …» Auch der Symptompfleger wird in seinem inneren und äußeren Aktionsradius durch die Krankheit des Partners eingeengt. Alles, was zuvor die Beziehung belastete, wird gegenstandslos, weil er sich jetzt vor allem pflegerisch um den Partner kümmern muss, er darf ihn für nichts beanspruchen, keine Forderungen an ihn stellen, womit er sich aber auch selbst von der Bewältigung dyadischer Konflikte dispensieren kann. Er kann oder muss stellvertretend die familiären Pflichten, Aufgaben und Verantwortungen allein übernehmen, was ihm eventuell ein Gefühl der Unersetzlichkeit, Überlegenheit und Macht verleiht. Er kann sich dem Partner in seiner Gesundheit überlegen und narzisstisch aufgewertet fühlen.
Ich habe hier nicht immer sauber
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