Die Zweierbeziehung
fester man hält, desto entschiedener entfernt sich die Quelle» (S. 69).
Manche Mütter «fressen ihr Kind aus Liebe» fast auf, stopfen es in triebhaft lustvoller Weise mit Nahrung voll, zerdrücken es beinahe in ihren Armen und gehen ganz in der Vorstellung auf, das Kind sei ein Teil von ihnen und gehöre ganz ihnen. Weist die Mutter selbst eine orale Charakterstruktur auf, so möchte sie in ihren oralen Bedürfnissen durch das Kind gestillt werden. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit soll mit dem ganz auf sie bezogenen Kind befriedigt werden. In ihrer Suche nach Zärtlichkeit soll sie mit Hautkontakt, Anklammerung und Lächeln des Kindes beschenkt werden. Der pflegerische und nährende Umgang mit dem Kind befriedigt ihre eigenen ungestillten oralen Bedürfnisse nach Gepflegt- und Genährtwerden.
Die Mutter hofft auf eine andauernde Symbiose mit diesem einzigen Lebewesen, das ganz ihr gehört. Sie reagiert frustriert und gekränkt, wenn das kleine Kind sich doch nicht so passiv wie eine Puppe manipulieren lässt, sondern schon früh eigene Initiative zu entfalten beginnt.
Die Mutter kann dadurch in eine echte orale Krise geraten. Ihr schon zuvor mangelndes Geborgenheitsgefühl und Urvertrauen wird durch das Kind noch tiefer erschüttert, ihr Selbstgefühl noch mehr lädiert. Sie fühlt sich als minderwertiger Versager, wird depressiv, gespannt, gereizt, hasst uneingestandenermaßen das Kind, um sich gleichzeitig übertrieben für es zu verausgaben. Sie lässt sich vom Kind in eine Kollusion verwickeln, die ihrerseits wiederum eine orale Fixation beim Kind bewirkt, sodass dieses, wenn es selbst einmal Mutter sein wird, seinem Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit die orale Störung weitergeben wird. So werden neurotische Störungen oft wie ein Fluch von Geschlecht zu Geschlecht tradiert.
In der Literatur der Familientherapie wird das Kind oft als Opfer der neurotischen Intentionen seiner Eltern dargestellt, als ein unbeschriebenes Blatt oder eine formbare Masse, als ein Wesen, das passiv den Eltern ausgeliefert ist und ihnen nichts entgegenzusetzen hat. Diese Betrachtungsweise muss als zu einseitig kritisiert werden. Es wirken nämlich nicht nur die Eltern neurotisierend auf das Kind, sondern das Kind – manchmal schon bevor es geboren wird – neurotisierend auf seine Eltern. Wohl handelt das Kleinkind nicht selbstverantwortlich und trägt für seine Auswirkung auf die Eltern keine Schuld, wohl agiert das Kind nicht eine Neurose in den Eltern aus, aber trotzdem kann es eine neurotisierende Auswirkung auf zuvor kompensierte Eltern haben, rein durch seine Präsenz und durch sein phasentypisches Verhalten. So hilflos das Kind an sich ist, in seinem Schreivermögen und in seinen rücksichtslosen Ansprüchen ist es der Mutter kräftemäßig oft überlegen. Die Äußerungen in der frühen Literatur der Familientherapie sind in dem Sinne zu korrigieren oder zu ergänzen, dass das Kind nicht nur das Opfer der Mutter ist, sondern die Mutter auch das Opfer des Kindes sein kann!
Der orale Charakter
Der orale Charakter ist gekennzeichnet durch die Gier, alles, was vorhanden ist, zu verschlingen, die Bedürfnisse nach dem Lustprinzip rücksichtslos anzumelden und deren unmittelbare Befriedigung zu fordern, nimmersatt noch mehr zu verlangen – ein Fass ohne Boden. Bezüglich Partnerwahl äußert sich das in der Suche nach einem Partner, der unbegrenzt spendet, der mütterlich betreut und pflegt. In der Ungehemmtheit des Forderns haben orale Charaktere oft auch den Charme eines Kleinkindes. Sie können herzzerreißend bitten, flehen und schmeicheln. Oft sind sie in hohem Maße frustrationsintolerant und trauen der Umgebung – oft zu Recht – nicht zu, ihre Ansprüche konstant zu erfüllen, weshalb sie sich auf den Standpunkt stellen, man müsse den Moment ausnützen, solange er noch etwas hergebe. Sie verstehen es, ihre Partner gerade mit dieser Misstrauenshaltung anzusprechen, indem sie in diesen den Wunsch wecken, durch unerschöpfbare Pflege und Fürsorge die früheren Frustrationen wettzumachen.
Viele dieser oralen Charaktere sind triebhaft-haltlos. Teilweise neigen sie zur Verwahrlosung und Kriminalität. Die süchtige Gier äußert sich in der Verschaffung von gehobener Stimmung und Wohlbefinden durch euphorisierende Medikamente, durch Alkohol, Drogen, Zigaretten usw. Besonders Frauen können süchtig nach Sexualbeziehungen verlangen und imponieren dann als nymphoman. Sie suchen Hautkontakt, Wärme und
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