Die zweite Kreuzigung
paar Stunden in dem Mausoleum gelegen hatte. Es war immer noch Weihnachtstag, früher Nachmittag. Der Schneefall wollte nicht nachlassen. Alles ringsum war gefroren, die Welt wirkte wie gefaltetes Papier. Die Abschürfungen an Knöcheln und Händen nicht gerechnet, hatte Ethan keine schweren Verletzungen erlitten. Die Polizisten kannten ihn alle und blickten ihn schockiert an, als er vor ihnen auftauchte. Er war völlig verschmutzt und hatte versengte Kleider.
Polizisten waren überall. Bob Forbes erklärte ihm, die Suche nach verwertbaren Spuren sei erweitert worden. Im Moment sei gerade sein Zimmer an der Reihe. Jemand brachte ihn in einen anderen Raum, wo man den Kamin anheizte und ihm aus seinem Koffer frische Sachen brachte. Man fragte ihn, ob er einen Arzt brauche. Er schüttelte nur den Kopf und meinte, ein Erste-Hilfe-Set tue es auch.
Es gelang, dem altersschwachen Boiler heißes Wasser für ein Bad zu entlocken. Während er die Wärme genoss, kam Detective Chief Inspector Forbes, um mit ihm zu sprechen. Ethan berichtete ihm, was geschehen war, und forderte, dass man sofort eine Fahndung nach Sarah auslösen müsse. Forbes wies einen Assistenten an, die Zentrale zu benachrichtigen.
»Wir brauchen ein Foto«, meinte Bob, »eine Beschreibung ihrer Kleidung und was sonst noch dazugehört.«
Im Zimmer des Großvaters stand eine sehr gute Aufnahme gerahmt auf dem Nachtschränkchen. Ethan fügte hinzu, was ihm noch dazu einfiel. Dann ging er in die Küche hinunter, um etwas zu essen. Als er am Tisch saß, kehrte die Erinnerung an den letzten Abend zurück. Was war während ihres gemeinsamen Essens eigentlich geschehen?,fragte er sich. Eine Frau wie Sarah war ihm noch nie begegnet. Er verfluchte den Umstand, dass jeder glauben musste, sie sei seine Nichte. Sie waren nicht blutsverwandt, aber wenn sie sich miteinander einließen, dann würde jeder sofort an Inzest denken. Das kam in der Familie und anderswo ganz gewiss nicht gut an. Das Schlimmste war, Gefühle dieser Art hatte er in seinem ganzen Leben bisher nur für einen Menschen empfunden – Abi. Was letzte Nacht geschehen war, hatte sie ihm nur noch nähergebracht. Er war außer sich vor Angst und dem heißen Bedürfnis, Sarah vor den Unmenschen zu schützen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Aber vielleicht war sie auch schon tot. Ihn schauderte bei der Erkenntnis, dass er daran bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte.
Er fragte Mary Boyd, eine Ermittlerin, mit der er bereits mehrfach an großen Fällen zusammengearbeitet hatte, ob die Spurensicherung auch die Bibliothek untersuchen wolle.
»Ich glaube nicht, Sir. Vielleicht später. Benötigen Sie etwas von dort?«
»Nur ein Buch«, antwortete er. »Ich möchte etwas nachschauen. Ich habe gestern darin gelesen.«
»Ich denke, das geht in Ordnung. Schließlich ist das doch Ihr Haus, nicht wahr?«
»Das Haus meiner Familie.«
»Er war Ihr Onkel? Eines der Opfer?«
»Mein Großvater. Er stand mir sehr nahe. Es ist ein schwerer Schlag.«
Sie sprach ihm ihr Beileid aus. Dann ging er in die Bibliothek. Dort war niemand. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um das Buch zu finden, den Brief samt Karte herauszunehmen und in die Tasche zu stecken.
Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er musste wissen, ob es Nachrichten von Sarah gab. Er fragte Bob Forbes danach, der aber meinte, er habe noch nichts gehört. Allerdings versicherte er Ethan, in der Zentrale habe man seine Information ernst genommen und sofort eine Fahndung ausgelöst.
»Wer leitet sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich werde mich erkundigen.«
»Ich möchte selber mitmachen, Bob. Hier verschwende ich nur meine Zeit. Der Chef will mich nicht bei den Ermittlungen in dem Mordfall haben, weil ich nicht genügend Abstand haben könnte. Meinen letzten Fall habe ich bereits abgegeben, und nun sitze ich herum, koche Kaffee und grüble vor mich hin.«
»Der Chef ist schon unterwegs. Er hat bereits gefragt, ob du da bist. Auf der A 46 war ein kleiner Stau, aber da ist er jetzt durch. Er müsste jeden Moment hier sein.«
Fünf Minuten später ließ Superintendent Willis seinen Fahrer einen Parkplatz suchen und schlurfte zu Fuß die Auffahrt herauf. Auf Ethan, der ihn durch das Fenster kommen sah, wirkte er müde und verstört. Die Schneeflocken auf seiner Glatze und auf den Schultern seines Mantels schien er gar nicht zu bemerken. Ethan hatte den Eindruck, dass er nicht nur wegen des vom Schnee glatten Untergrunds so unsicher daherkam. Der Posten
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