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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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nicht sehr lange. Aber ich liebe ihn schon. Ich habe nie jemanden wie ihn kennengelernt. Er ist liebenswürdig und rücksichtsvoll, und alles, was er macht, macht er richtig. Ich habe noch nie gesehen, daß er bei irgend etwas, das er angepackt hat, versagt hat. Trotzdem wirkt er nicht so gehetzt wie andere Männer. Er gewinnt so leicht. Er glaubt unerschütterlich an sich, und das ist sympathisch. Er hat mir alles gegeben, was ich mir nur wünschen könnte, alles.“
    Ich las sie, fing ihre Liebe auf und ihren Kummer und sagte spontan: „Außer sich selbst.“
    Sie starrte mich erschrocken an. Dann lächelte sie. „Ich hab’s ganz vergessen. Sie sind ein Talent. Natürlich wissen Sie es. Sie haben recht. Ich weiß nicht, was mich beunruhigt, aber ich bin beunruhigt. Dino ist so perfekt, wissen Sie. Ich habe ihm alles erzählt – nun, wirklich alles. Alles über mich und mein Leben. Und er hört mir zu und hat Verständnis. Er ist immer für mich da, wenn ich ihn brauche. Aber …“
    „Es ist einseitig“, sagte ich. Es war eine Feststellung. Ich wußte es.
    Sie nickte. „Es ist nicht so, daß er Geheimnisse vor mir hätte. Er hat keine. Er würde mir jede Frage beantworten, die ich ihm stelle. Aber die Antworten sind bedeutungslos. Ich frage ihn, wovor er Angst hat, und er sagt, vor nichts, und er sagte es so, daß ich es ihm glaube. Er ist immer vernünftig, sehr ruhig. Er wird nie wütend, ist nie wütend gewesen. Ich habe ihn gefragt. Er haßt die Leute nicht, er ist der Ansicht, Haß sei verrückt. Er hat noch niemals Schmerzen gehabt, behauptet das zumindest. Emotionellen Schmerz, meine ich. Trotzdem versteht er mich, wenn ich von meinem Leben rede. Einmal hat er gesagt, sein größter Fehler sei seine Faulheit. Aber er ist überhaupt nicht faul, ich weiß das. Ist er wirklich so perfekt? Er erzählt mir, er sei sich seiner immer sicher, weil er weiß, daß er tüchtig ist, aber er lächelt, wenn er das sagt, also kann ich ihm nicht einmal den Vorwurf machen, er sei eitel. Er sagt, er glaubt an Gott, aber er spricht nie darüber. Versucht man, ernsthaft mit ihm darüber zu reden, wird er geduldig zuhören oder ein Späßchen machen oder auf ein anderes Thema überleiten. Er sagt, er liebt mich, aber …“
    Ich nickte. Ich wußte, was kam.
    Und es kam. Sie sah zu mir auf, ihre Augen bettelten. „Sie sind ein Talent“, sagte sie. „Sie haben ihn gelesen, nicht wahr? Sie kennen ihn. Sagen Sie es mir. Bitte, sagen Sie es mir.“
    Ich las sie. Ich konnte sehen, wie sehr sie es brauchte, das zu wissen, wie stark beunruhigt und verängstigt sie war, wie sehr sie liebte. Ich konnte sie nicht belügen. Aber es fiel mir auch schwer, ihr die Antwort zu geben, die ich ihr geben mußte.
    „Ich habe ihn gelesen“, sagte ich. Bedächtig. Behutsam. Ließ die Worte wie die Tropfen einer bitteren Medizin hinausträufeln. „Und Sie, Sie auch. Ich habe Ihre Liebe gesehen, an diesem ersten Abend, als wir zusammen essen waren.“
    „Und Dino?“
    Die Worte stauten sich in meiner Kehle. „Er … er ist eigenartig. Das hat Lya einmal gesagt. Ich kann seine Oberflächenemotionen ganz leicht lesen. Darunter aber – nichts. Er ist sehr in sich selbst zurückgezogen, ringsum Barrieren. Fast so, als hätte er nur die Emotionen, die er sich … zu fühlen erlaubt. Ich habe sein Selbstvertrauen, seine Zufriedenheit gefühlt. Ich habe auch Sorge gefühlt, aber niemals wirkliche Angst. Er empfindet Ihnen gegenüber ehrliche Zuneigung, er will Sie beschützen. Es gefallt ihm, den Beschützer zu spielen.“
    „Ist das alles?“ So hoffnungsvoll. Es tat weh.
    „Ich fürchte, ja. Er ist eingemauert, Laurie. Er braucht sich – und nur sich allein. Wenn es Liebe in ihm gibt, dann ist sie hinter dieser Mauer, versteckt. Ich kann sie nicht lesen. Er hält eine Menge von Ihnen, Laurie. Aber Liebe … nun, das ist etwas anderes. Sie ist stärker und irrationaler, und sie kommt in donnernden Brandungswellen. Und Dino ist nicht so, wenigstens nicht dort, wo ich ihn lesen kann.“
    „Verschlossen“, sagte sie. „Er verschließt sich vor mir. Ich habe mich ihm geöffnet, völlig. Aber er nicht. Ich hatte immer Angst – sogar, wenn er bei mir war. Ich habe manchmal gespürt, daß er gar nicht wirklich da war …“
    Sie seufzte. Ich las ihre Verzweiflung, ihre aufquellende Einsamkeit. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. „Weinen Sie, wenn Sie wollen“, sagte ich unschlüssig. „Manchmal hilft das. Ich weiß das. Ich habe oft

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