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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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lachst mit den Leuten, nicht über sie, und ich lache mit dir, und ich liebe dich, weil du so bist. Ich weiß, wenn du mit mir reden willst und wenn ich still sein soll. Ich weiß, wann du mich als deine stolze Tigerin sehen willst, als deine lohfarbene Telepathin, und wenn du ein kleines Mädchen haben willst, das sich deinen schutzgebietenden Armen anvertraut. Und ich bin all diese Wesen, Robb, weil du mich so haben willst, weil ich dich liebe, weil ich die Freude in deinem Geist spüre – jedesmal, wenn ich etwas richtig gemacht habe. Ich hatte nie die Absicht, mich so zu verhalten, aber es ist geschehen. Es macht mir nichts aus; es hat mir nichts ausgemacht. Die meiste Zeit war es mir nicht einmal bewußt. Du machst es genauso. Ich lese es in dir. Du kannst nicht so lesen wie ich, deshalb irrst du dich manchmal – du gibst dich witzig, wenn ich stilles Verständnis haben will, oder du markierst den starken Mann, wenn ich einen Jungen brauche, den ich bemuttern kann. Aber oft liegst du auch richtig. Und du gibst dir Mühe, oh, du gibst dir immer Mühe.
    Aber bist das wirklich du? Bin das wirklich ich? Was ist, wenn ich nicht perfekt bin, weißt du, wenn ich nur einfach ich selbst bin, mit all meinen Fehlern und den Dingen, die du nicht offengelegt haben willst. Würdest du mich dann immer noch lieben? Ich weiß nicht. Aber Gustaffson würde es, und Kamenz auch. Ich weiß das, Robb. Ich habe es gesehen. Ich kenne sie. Ihre Ebenen … sie existieren nicht mehr. Ich KENNE sie, und wenn ich zu ihnen zurückkehren würde, so könnte ich mit ihnen teilen, viel mehr teilen als mit dir. Und sie kennen mich, mein wirkliches Wesen, sie kennen mich durch und durch, denke ich. Und sie lieben mich. Verstehst du? Verstehst du?“
    Habe ich es verstanden? Ich weiß es nicht. Ich war verwirrt. Würde ich Lya lieben, wenn sie ‚sie selbst’ war? Wie verschieden war diese Lya von der Lya, die ich kannte? Ich dachte, daß ich Lya liebte, daß ich Lya immer lieben würde – was aber, wenn die wirkliche Lya nicht mehr meine Lya war? Was liebte ich? Die fremdartige, abstrakte Konzeption eines menschlichen Wesens oder Körper und Stimme und Persönlichkeit, die für mich Lya darstellten? Ich wußte es nicht. Ich wußte nicht mehr, wer Lya war oder wer ich war oder was, zur Hölle, das alles bedeutete. Und ich hatte Angst. Vielleicht hatte ich das, was sie an diesem Nachmittag gefühlt hatte, nicht fühlen können. Aber ich wußte, was sie dann gefühlt hatte. Ich war allein, und ich brauchte jemanden.
    „Lya“, rief ich. „Lya, laß es uns versuchen. Wir brauchen nicht aufgeben. Wir können zueinander finden. Es gibt einen Weg, unseren Weg. Wir sind ihn schon vorher gegangen. Komm, Lya, komm mit mir, kommt mit mir.“
    Während ich sprach, entkleidete ich sie, und sie reagierte, ihre Hände waren den meinen behilflich. Als wir nackt waren, begann ich sie zu streicheln, langsam, und sie streichelte mich. Unsere Gedankenfühler griffen hinaus, berührten den Körper des anderen. Griffen hinaus und berührten sich wie noch nie zuvor. Ich konnte sie fühlen, im Innern meines Kopfes, ich fühlte, wie sie grub. Tiefer und tiefer. Hinunter. Und ich öffnete mich ihr, ich lieferte mich ihr aus, gab ihr all die schäbigen kleinen Geheimnisse, die ich vor ihr versteckt gehalten hatte oder versteckt zu halten versucht hatte, jetzt übergab ich ihr alles, woran ich mich erinnern konnte, meine Triumphe und meine Niederlagen, meine Schande, die guten Augenblicke und den Schmerz, Situationen, in denen ich jemand anderen verletzt hatte, Situationen, in denen ich verletzt wurde, die langen Zeiten der Traurigkeit, der Tränen, die Ängste, die ich nicht einmal mir selbst eingestand, Vorurteile, die ich bekämpfte, die Nichtigkeiten, die im Lauf der Zeit im Unterbewußtsein versickert waren, die dummen, kindischen Sünden. Alles. Jede Kleinigkeit. Ich verdeckte nichts. Ich hielt nichts zurück. Ich gab ihr mein ganzes Ich, Lya, meiner Lya. Sie mußte mich kennenlernen.
    Und auch sie gab sich mir hin. Ihr Geist war ein Wald, durch den ich streifte, tiefer jagte, hinter Spuren von Emotionen herhetzte; ganz oben die Angst und die Sehnsucht und die Liebe, die schwächeren Regungen darunter, die halbformulierten Wünsche und Begierden noch tiefer in den Wäldern. Ich hatte nicht Lyas Talent, ich las nur Gefühle, niemals Gedanken. Aber jetzt las ich Gedanken, zum ersten und letzten Mal, Gedanken, die sie mir entgegenschleuderte, weil ich sie noch

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