Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Inneren war sie noch immer ein Kind.
Megan sah Jill in die Augen. »Hast du einen Traum, Mom?«
Jill war froh, das Thema wechseln zu können. »Du bist mein Traum«, antwortete sie.
Megan lachte. »Das meinst du nicht ernst.«
»Doch. Eine wunderbare Tochter wie dich zu haben ist ein Traum.« Tränen traten ihr in die Augen, was sie selbst überraschte. Sie ignorierte sie. »Ich habe unglaubliches Glück gehabt.«
»Aber was ist dein persönlicher Traum, deine Leidenschaft?«
»Außer dir?«
»Ja.« Megan rollte mit den Augen, aber Jill ging nicht darauf ein.
»Eines Tages wirst du es verstehen, mein Schatz. Die Leidenschaft jeder Mutter sind ihre Kinder – und das ist völlig normal. Man spricht es nur viel zu selten aus. Ich sehe das jeden Tag in meiner Praxis. Damit ihre Kinder wieder gesund werden, sind Mütter bereit, einfach alles zu tun. In all den besorgten Anrufen und Mails, die sie mir schicken, spüre ich, dass ihre Babys ihr Ein und Al les sind.« Jill dachte an Padma und ihre drei Söhne, dann schweiften ihre Gedanken zu ihrer eigenen Mutter. »Jede Mutter opfert sich Tag für Tag für ihr Kind auf – und sie tut es gern. Für sie ist es das Selbstverständlichste auf der Welt. Das ist wahre Leidenschaft.«
Megan lächelte, war aber nicht zufrieden mit der Antwort. »Und was war vor meiner Geburt deine Leidenschaft? Oder hattest du keine?«
Jill dachte kurz nach. »Ich glaube, ich wollte schon immer Kindern helfen. Deshalb bin ich auch Kinderärztin geworden. Sozusagen eine professionelle Mutter.«
Megan grinste. »Du nimmst den Mund aber ziemlich voll.«
»Keine Sorge.« Jill lächelte ihr zu. Sie war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Jetzt habe ich aber eine Frage an dich: Was ist deine Leidenschaft?«
Megan runzelte leicht die Stirn. »Keine Ahnung. Ist das schlimm?«
»Nein, überhaupt nicht. Du bist noch jung. Es ist wie mit der Liebe, denn auch Leidenschaft ist eine Art von Liebe. Man lernt sie kennen und entscheidet sich, wenn die Zeit gekommen ist. Vielleicht wirst du mal Profischwimmerin oder Tierärztin. Oder die Schauspielerei oder das Singen wird deine Leidenschaft. Bei Schulaufführungen warst du immer wunderbar. Egal. Dein Lebensziel wird sein, das herauszufinden. Geld ist kein Lebensziel, Liebe schon.«
Megan seufzte. »Und wie geht es jetzt mit Abby weiter?«
»Was meinst du?«
»Nehmen wir mal an, William ist tatsächlich ermordet worden.«
»Die Polizei sagt, es war kein Mord, sondern eine tödliche Mixtur aus Tabletten und Alkohol.«
»Er mochte Whiskey. Er hat mich mal probieren lassen.« Megan rümpfte die Nase. »Was für Tabletten hat er eigentlich genommen?«
»Tabletten gegen Angstzustände und Schmerzen.«
»Hat er das Zeug schon während eurer Ehe geschluckt?«
»Ich glaube nicht. Aber er hat Proben mitgehen lassen. Wenn ich ihn zur Rede gestellt habe, hat er behauptet, er hätte sie verkauft. Vielleicht hat er damals ja gelogen.«
»Was für Proben waren das?«
»Zum Beispiel Ritalin, ein Medikament, das man Kin dern mit Aufmerksamkeitsdefizit gibt.« Jill musste nicht ausführlicher werden. Letztes Jahr hatten Jugendliche an Megans Highschool Ritalin an Klassenkameraden verkauft.
»Und wenn man diese Medikamente mit Alkohol einnimmt, bekommt man gleich einen Herzinfarkt?«
»Es kann passieren.« Jill stocherte in ihrem Salat herum.
Megan betrachtete ihren, rührte ihn aber nicht an. Sie überlegte.
»Die Mordgeschichte ist nichts anderes als Abbys Versuch, mit Williams Tod zurechtzukommen. Die Polizei sagt, es war kein Mord, und Victoria ist der gleichen Meinung.«
Megan blickte hoch, ihre Augen funkelten. »Tu trotzdem, was sie will. Hilf ihr.«
»Aber sie hat unrecht. Sie weiß nicht, wovon sie spricht.«
»Dann hilf ihr dabei, das selbst zu erkennen. Liebst du sie nicht mehr?«
»Natürlich liebe ich sie.«
»Und sie liebt dich auch, Mom. Sie hat dich immer geliebt, als wärst du ihre leibliche Mutter.«
Jill wusste nicht, was sie sagen sollte. Abbys leibliche Mutter war bei einem Verkehrsunfall gestorben, als Abby vier Jahre alt gewesen war. Sie war reich gewesen, doch diesen Gedanken wollte Jill nicht weiterverfolgen. »Hat dich das jemals gestört?«
»Überhaupt nicht. Es ist doch schön, wenn jemand denselben Menschen liebt wie du.« Megan lächelte. »Wenn Leute zum Beispiel sagen, dass Beef süß ist, freut mich das. Ich mag es jedoch nicht, wenn sie sagen, er sei alt und fett. Ich mag Abby, aber wenn sie
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