Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Kaffee aus Plastikbechern getrunken oder telefoniert, eine Parade von Ablenkungsmanövern.
»Hoffentlich ist ihr nichts passiert.«
»Das hoffe ich auch.«
»Ist sie weggerannt?«
»Das glaube ich nicht.« Jill gab Megan einen Klaps aufs Knie. »Aber jetzt zu dir. Was steht heute an?«
»Ein Test in Französisch.«
»Tatsächlich?« Jill war nicht mehr auf dem Laufenden. Normalerweise lernte sie vorher mit Megan zusammen die französischen Vokabeln. »Bist du gut vorbereitet?«
»Ist Abby wegen Sam abgehauen?«
»Nein. Außerdem ist sie nicht weggelaufen. Vielleicht ist sie ja bei einem Freund, das hast du selbst gesagt. Victoria ist sicherheitshalber zur Polizei gegangen. Wir finden sie schon, keine Sorge.«
Megan wurde still und blickte auf ihr Handy. »Sie hat sich so geschämt, weil sie aufs Bett gekotzt hat. Vielleicht, wenn ich netter zu ihr …«
»Darum geht es nicht.« Jill unterbrach sie, um Megans Gedanken schon im Keim zu ersticken. »Du hast keine Schuld, und außerdem ist sie nicht abgehauen. Versuch am besten an etwas anderes zu denken.«
»Aber im Fernsehen sagen sie immer, dass man Ausreißer nur innerhalb der ersten achtundvierzig Stunden finden kann. Wir müssen uns beeilen, Mom.«
»Wir finden sie«, sagte Jill, aber in Wirklichkeit war sie sich dessen nicht mehr sicher. Megans Handy leuchtete wieder auf, aber diesmal kümmerte sie sich nicht darum. Ihr Blick war nach innen gerichtet.
»Und wenn Abby sich doch etwas angetan hat? Tut mir leid, aber ich habe euch belauscht.«
Jill seufzte innerlich. »Gut, sie hat es ein Mal probiert, aber das ist schon lange her. Es gibt keinen Grund, dass sie es wieder tut.«
»Sam hast du gestern Abend etwas anderes erzählt.«
Jill verkrampfte sich. Ihre eigene Tochter hatte sie beim Lügen erwischt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Wenn ich mir schon Sorgen mache, musst du das nicht auch noch tun. Du weißt ja, wie hysterisch ich manchmal sein kann.«
»Erinnerst du dich noch an Joshs Schwester?«
Jill zuckte zusammen. Die ältere Schwester eines von Megans Klassenkameraden hatte Selbstmord begangen. Auch ihre Klasse hatte an der Mahnwache und der Gedenkfeier teilgenommen. Mit dieser Art von Veranstaltungen wollte man an staatlichen Schulen den Schülern den Umgang mit ihrem Schmerz erleichtern.
»Abbys Dad ist gerade gestorben. Außerdem trinkt sie zu viel.«
»Schluss jetzt. Wir finden sie.« Jills Worte klangen endgültig. Der Wagen vor ihr fuhr ihr zu langsam, sie hupte.
Megans Handy leuchtete wieder auf, und wieder ignorierte sie es. »Mom, hat Sam gestern gesagt, dass er alles für mich tun würde, aber für Abby nicht?«
»Prinzipiell schon.«
»Ich mag ihn sehr.« Jetzt sah sich Megan doch ihre eingegangenen Nachrichten an. »Ihr beide kriegt das schon wieder hin, oder?«
»Ich hoffe es.« Jill sah zu ihrer Tochter, die sich von ihr abwandte. »Was denkst du?«
»Nichts.« Megan presste die Lippen auf die Zahnspange. »Als William noch unser Dad war, war Abby die Lieblingstochter. Bei Sam bin ich es. Das gefällt mir.«
Jill verbarg ihr Entsetzen. Ob sie je die verschiedenen Stimmen und Wünsche ihrer Familie unter einen Hut bringen würde? Im Swimmingpool bewegte sie sich souverän, aber ihr Familienboot trieb mal wieder auf zu hoher See auf eine Stelle zu, wo die verschiedensten gefährlichen Strömungen aufeinanderprallten. Unter diesen schweren Voraussetzungen war ein Schiff nicht leicht zu steuern.
»Ist es schlimm, wenn mir das gefällt?«, fragte Megan.
»Nicht wenn es der Wahrheit entspricht«, antwortete Jill. Die Ampel schaltete auf Rot.
34
Fahrradkuriere, Pkws und Lieferwagen verstopften die Straßen, während Touristen aus Asien, gepiercte Hipster und geschäftige junge Männer mit fliegenden Krawatten sich auf den Gehwegen drängelten. Fast jeder hatte ein Handy oder ein Mikrofon am Ohr, kaum einer von ihnen hatte Zeit. Man aß im Gehen und trank im Gehen. Es wurde gehupt, gelacht und geschimpft, tiefe Bässe wummerten von einem vorbeifahrenden Cabrio herüber. Jill blickte durch das verschmierte Fenster ihres Taxis in einen warmen New Yorker Vormittag. Den Ton des Fernsehers, der sich in ihrem Taxi befand, hatte sie abgestellt. Sie wollte mit ihren Gedanken allein sein.
Tut mir leid, aber ich habe euch belauscht.
Zum x-ten Mal überprüfte sie ihr Blackberry, aber keine Nachricht von Abby. Auch nicht von Sam. Kurz hatte sie überlegt, sich bei ihm zu melden, aber was sollte sie ihm sagen? Und was
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