Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
schwamm eine halbe Bahn und tauchte wieder auf.
Am liebsten schwamm sie Freistil, so auch jetzt. Sie achtete auf den wechselseitigen Armzug und den kontinuierlichen Beinschlag. Für sie geschah beides beinahe so automatisch wie das kurze Atemholen zwischendurch, für das sie nur Millisekunden brauchte. Die Rollwende gelang ihr nicht so gut, auf dem Weg zurück versuchte sie ihren Körper stromlinienförmig im Wasser zu halten. Den Schmerz in den Armen und ihren keuchenden Atem ignorierte sie. Nur durch Schwimmen wird man im Schwimmen ein Meister, das hatte ihr Trainer am College immer gesagt. Wie recht er gehabt hatte, auch wenn sie diesen Satz etwas überstrapazierte.
Jill kraulte. Ihr Körper musste beim Schwimmen seinen Rhythmus selbst finden. Sie hörte auf ihren Atem und ver suchte das Tempo beizubehalten. Sie machte so wenige Schläge wie möglich, so war sie schnell, ohne sich physisch verausgaben zu müssen. Sie nannte das sportliche Effektivität. Ihr ganzer Körper mit all seinen Muskeln, ihr Herz und auch ihr Verstand, sie alle hatten nur ein Ziel: es zu genießen, wenn das Wasser Brust, Bauch und Beine berührte.
Die nächste Rollwende war schon besser. Ihre Arme reckten sich mit jedem Schlag, ihre Beine schlugen im Wasser auf und ab, doch dann hatte der Körper endlich seinen Rhythmus gefunden. Sie glitt durchs Wasser und schwamm eine Bahn nach der anderen, geradezu mühelos, wie ein Flugzeug, das endlich seine Reiseflughöhe erreicht hatte. Bald kam die Erschöpfung. Sie kletterte aus dem Pool, schnappte nach Luft und fühlte sich großartig. Gereinigt, entspannt, wie neugeboren.
Beef hatte sich vor den Zaun gestellt und bellte. Jill ging zu ihm, aber da war nichts. Alle in der Nachbarschaft schliefen bereits.
»Still, Beef!« Ihre Brust hob sich noch immer in schneller Abfolge von der Anstrengung.
Doch Beef bellte weiter und sprang schließlich sogar am Zaun hoch, als wäre jemand auf der anderen Seite.
Jill sammelte Hose und Pulli ein und bedeckte damit instinktiv ihren Körper. Sie fühlte sich plötzlich ungeschützt, verletzbar.
»Beef, komm rein!« Sie rannte in Richtung Haus. War sie jetzt schon paranoid geworden? Egal, sie wollte so schnell wie möglich nach drinnen.
Sie riss die Tür auf, aber wo blieb der Hund?
»Beef, komm jetzt endlich!«, rief sie mit ängstlicher Stimme, und Beef kam zu ihr gerannt, sein Schwanz eingezogen.
Sie schlug die Tür hinter ihm zu, sperrte sie ab und schob den Riegel vor. Dann lief sie zur Alarmanlage und schaltete sie ein. Verängstigt presste sie sich gegen die Wand, damit niemand sie durch die Fenster sehen konnte. Wassertropfen fielen laut auf den Holzboden.
Zu gern hätte Jill gewusst, wer oder was sich auf der anderen Seite des Zauns verborgen hatte.
33
»Megan, beeil dich!« Jill rannte zum Wagen, sie wollte den Zug nach New York nicht verpassen. Mit gesenktem Kopf – sie hatte ihr Handy in der Hand – und Rucksack und Sporttasche, die locker vom Arm runterhingen und gegen ihre Beine schlugen, ging Megan langsam zum Wagen, den Jill gerade anließ. Es war ein klarer Frühlingsmorgen. »Megan, komm jetzt.«
»Reg dich ab, Mom.« Megan öffnete die Beifahrertür, warf ihre Taschen in den Fußraum, noch immer voll und ganz auf ihr Handy konzentriert. »Wir haben noch ewig viel Zeit.«
»Haben wir nicht.« Jill wollte gerade zu einem Vortrag ansetzen, aber Megan war schon wieder unansprechbar, sie tippte eine Nachricht. »Wer ist das, wenn ich fragen darf?«
»Nur Courtney«, antworte Megan, ohne den Kopf zu heben. Jill winkte Janet Baker zu, die zur Arbeit fuhr.
»Ich dachte, du schreibst an deinen Gitarrenhelden.«
»Quatsch.« Megan verzog das Gesicht. »Mom, was ist mit Sam? Ich habe euch gestern Abend streiten gehört. Ist er weg?«
Jill wäre fast auf die Bremse getreten. »Er hat im Labor geschlafen, aber er kommt heute Abend wieder.« Ob das stimmte, wusste sie nicht, aber sie wollte Megan mit zusätzlichem Stress verschonen. Jill hatte nichts von ihm gehört, sie hatte ihn aber auch nicht kontaktiert.
»Er mag Abby nicht, stimmt’s?«
»Er wird sie mögen, wenn er sie erst richtig kennengelernt hat.«
»Nein. Sie ist eine andere geworden.« Megans Handy leuchtete auf, als eine SMS einging. »Ich mochte die alte Abby auch mehr als die neue. Aber ich weiß, dass die alte noch immer in der neuen drinsteckt, falls das irgendwie Sinn macht?«
»Klar.« Jill fuhr die Straße entlang. In all den Wagen, die ihr begegneten, wurde
Weitere Kostenlose Bücher