Die zweite Todsuende
Wenn Emily Maitland auftaucht und Sie zufällig mit ihr reden können, lassen Sie durchblicken, wir wüßten sehr wohl, daß sie und ihre Mutter häufig mit Victor in der Stadt gegessen haben.»
Boone starrte ihn einen Augenblick an, dann gingen sie zu den Frauen zurück.
«Ich kapiere», sagte er nach einer Weile. «Sie möchten wissen, ob die beiden den Bus oder den Zug genommen haben oder ob sie mit dem alten Mercedes gekommen sind.»
«Richtig», sagte Delaney. «Sie denken allmählich ebenso wie ich.»
Als Delaney sah, wie die Menschenmassen sich in der Galerie Geltman drängten und alle Augenblicke noch neue Gäste eintrafen, wandte er sich zu den anderen und sagte: «Falls wir in der Menge getrennt werden - wie wär's, wenn wir uns um Mitternacht hier auf dem Bürgersteig treffen? Wir hätten dann über zwei Stunden. Das sollte reichen, alles zu sehen.»
Sie erklärten sich einverstanden und stürzten sich ins Gewühl.
Delaney erkannte die mephistophelischen Züge von Lieutenant Bernard Wolfe. Er trug einen reverslosen schwarzen Samtanzug, ein malvenfarbenes Rüschenhemd mit glitzernden Knöpfen sowie Manschettenknöpfe, die aussahen wie Glasaugen. Tief beugte der Lieutenant sich über Monicas Hand.
«Nimm dich vor diesem Schlawiner in acht», riet Delaney seiner Frau gutmütig, «er ist gefährlich.»
«Das will ich gern glauben», sagte sie und sah Wolfe bewundernd an. «Dabei hatte ich gedacht, alle Polizisten kauften ihre Sachen von der Stange.»
«Das Kostüm ist bloß Verkleidung», sagte Wolfe und grinste sie an. «Im Grunde bin ich jemand, der braune Schuhe und weiße Socken trägt.»
«Das können Sie mir nicht weismachen», frotzelte sie.
«Und Sie kennen alle diese Leute?» Delaney hatte Mühe, nicht abgedrängt zu werden.
«Die meisten. Möchten Sie jemand Bestimmten kennenlernen?»
«Im Augenblick nicht», sagte Delaney. «Könnten Sie Geltman wohl mal beiseite nehmen und ihn fragen, ob Belle Sarazen ihm jemals Käufer für Maitlands Sachen vermittelt hat? Aber ganz beiläufig. Und ohne mich zu erwähnen.»
«Betrachten Sie's als bereits geschehen», sagte Wolfe. «Mrs. Delaney, hinten ist ein kaltes Büfett, und es gibt dort auch was zu trinken. Soll ich Ihnen etwas holen?»
«Ich komme mit», sagte sie. «Ich muß sowieso die Runde machen. Befehl von oben!»
«Und Ihr Mann vertraut Ihnen?» fragte der Lieutenant und bedachte Delaney mit seinem durchtriebensten Lächeln.
«Ja, das tut er», sagte Monica. «Leider.»
«Edward X. Delaney!» Der Chief hörte ein gurrendes Lachen, und als er sich umwandte, stand er vor Belle Sarazen. Sie war glatt wie ein Stahlrohr, ihr silbriges Haar lag eng am Kopf an und glänzte, und ihr biegsamer Körper steckte in einem metallischen Futteralkleid, das wie aufgesprüht wirkte.
«Wofür steht das X eigentlich?» wollte sie wissen.
«Das X markiert den Tatort», sagte er; diesen «Witz» hatte er ohne jeden Humor mit einer gewissen Selbstüberwindung sein Leben lang wiederholt.
«Ihr beiden habt mich neulich gleich doppelt reingelegt, stimmt's?» sagte sie und zeigte ihre makellosen Zäe.
Er neigte den Kopf.
«Ganz schön schlitzohrig.» Sie musterte ihn jetzt neugierig.
«Bin glatt drauf reingefallen. Dabei hatte ich mich für klüger gehalten.»
«Ich auch», sagte er.
Sie lachte und zog ihn am Arm näher, so daß er ihre harten Brüste spürte.
«Soll ich Sie mit irgendwem bekannt machen?» fragte sie.
«Nein, vielen Dank. Allerdings würde ich gern die Bilder sehen.»
«Die Bilder?» Ein übertrieben ungläubiger Scheinblick traf ihn. «Wer kommt schon zu einer Vernissage, um Bilder zu sehen?»
«Mrs. Maitland», sagte Boone, «freut mich, Sie wiederzusehen. Darf ich Sie mit Rebecca Hirsch bekannt machen?»
Die beiden Frauen maßen einander mit Blicken.
«Mein Sohn Ted», sagte Alma Maitland. «Mrs. Hirsch. Sergeant Boone von der New Yorker Polizei.»
Wortlos starrte Ted Maitland sie an.
«Wir versuchen, an die Bilder ranzukommen», sagte Boone. «Aber die vielen Leute …»
«Wie finden Sie die Bilder?» fragte Rebecca Ted Maitland.
Mit einem fast haßerfüllten Blick funkelte er sie an.
«Sie würden das doch nicht verstehen», sagte er.
Delaney bahnte sich mit den Ellbogen den Weg zur Wand. Zuletzt drückte die Menge ihn fast dagegen. Er wurde in eine der kleinen, aus drei Trennwänden bestehenden Nischen geschoben. Drei Bilder. Jedes einzelne, wie er bemerkte, in der rechten unteren Ecke deutlich signiert: Victor
Weitere Kostenlose Bücher