Die zweite Todsuende
weiteres Motiv zutage komme, halte er die Sarazen immer noch für fähig und imstande, aus Rachsucht jemanden umzubringen, der ihrer Eigenliebe zu nahe getreten sei -egal, ob das wirklich geschehen sei oder ob sie es sich bloß einbilde. Er sagte, Monicas Zweifel rührten daher, daß sie davon ausgehe, Belle Sarazen sei ein vernunftbegabter Mensch und handle also auch vernünftig. In Wahrheit jedoch sei sie eine ungefestigte Persönlichkeit, die ein alles andere als gradliniges Leben geführt und dabei eine Fülle von vernunftwidrigen Dingen getan habe.
Für einen Polizeibeamten - ihn eingeschlossen -, sei es immer wieder überraschend, daß Menschen häufig nicht nur gegen die Gesetze verstießen, sondern wider jede Vernunft und gegen den ganz normalen Menschenverstand handelten. Polizisten begriffen das häufig nicht, sagte Delaney, weil sie nach Logik und Vernunft suchten in einer Welt, die sich nur allzuoft als vernunftwidrig und unlogisch erweise. Sie seien außerstande, das ausgesprochen Verrückte im Menschen zu verstehen. Der Chief erzählte Monica von einem Mord, den er als Lieutenant in Greenwich Village untersucht hatte …
Ein junger Mann aus dem Mittleren Westen, College absolviert, gute Herkunft, vermögend, wollte partout Schauspieler werden, und seine Eltern waren bereit, ihn zwei Jahre lang finanziell zu unterstützen. Er kam also nach New York, nahm Unterricht an einer Schauspielschule und sah sich hier um.
Das «freie Leben», das in den sechziger Jahren im Künstlerviertel Greenwich Village herrschte, machte ihn im wahrsten Sinne des Wortes schier verrückt. Drogen und Sex, soviel er wollte. Er wurde damit nicht fertig. Zwar geriet er nie wirklich an harte Drogen, LSD, Pillen und Alkohol machten ihn aber dauernd high. Er bezog mit fünf, sechs Männern und Frauen einen Speicher. Jeden Abend in anderer Besetzung, immer das gleiche Stück. Er vögelte, was da kreuchte und fleuchte, machte alles mit. Das hielt er für den Weg zur Offenbarung und zur großen Kunst. Nach einiger Zeit konnte er nicht einmal mehr zwischen Männlein und Weiblein unterscheiden.
Eines Abends erwürgte er ein junges Mädchen, mit dem er Analverkehr hatte. Es hätte ebensogut ein Mann oder ein Kind sein können; an diesem Abend war es zufällig eine Frau. Als er ausgenüchtert war, fragte man ihn, warum er die Tat begangen habe. Er war fassungslos und wußte es nicht. Er wußte es wirklich nicht! Das Opfer war für ihn fast eine Fremde gewesen. Er hatte einfach nur Lust gehabt, sie umzubringen, einfach so, um auch diese Erfahrung zu machen.
Es sei die Freiheit, sagte Delaney bedrückt zu Monica, zum Teil auch die Drogen, das müsse er zugeben, aber vor allem diese grenzenlose Freiheit ohne alle Beschränkungen. Keine Regeln, keine Gesetze, keine Verbote. Moralische Anarchie. Der junge Mann war ernstlich überrascht, als ihm schließlich aufging, daß er für seine Tat bestraft werden sollte. Er konnte das nicht verstehen. In seinen Augen war das keine so große Sache.
Der Chief erklärte Monica, es ergehe Menschen häufig so, die mit der Freiheit nicht umgehen könnten. Selbstzucht sei ihnen fremd. Sie handelten nur nach Lust und Laune, gäben dem Impuls des Augenblicks nach. Es sei ihnen unmöglich, das Vergnügen von heute der Befriedigung von morgen zu opfern. Er meinte, vielleicht sei es bei Belle Sarazen ebenso. Sie lebe in einer Welt, in der man leicht einmal zu Geld kam, in der man bedenkenlos hinter Vergnügungen her war und sie sich rücksichtslos verschaffte. Keine Regeln, keine Gesetze, keine Verbote. Totale Freiheit und die Gier nach Nervenkitzel. Es würde schwer halten, wie Delaney zugab, den Geschworenen das als Motiv einsichtig darzustellen. Geschworene hielten für gewöhnlich Ausschau nach handfesteren Motiven: Rache, Haß, Wollust, Eifersucht. Es sei nicht leicht, vernünftige Leute davon zu überzeugen, daß jemand nur so, ohne zwingendes Motiv, einen Menschen umbringen könne. Trotzdem käme das vor, ja, es komme immer öfter vor.
Das Motiv sei also wichtig, erklärte er Monica, jedoch würde ein erfahrener Polizeibeamter eine Tat ohne erkennbares Motiv nicht von vornherein ausschließen; so wichtig war es wiederum nicht. Belle Sarazen verhökerte Drogen und Mädchen; das lag auf der Hand. War der Sprung von diesem Punkt zum nächsten, nämlich jemandem, der einen ärgerte, ein Messer in den Leib zu stoßen, so groß? Zumal wenn man glaubte, daß es so etwas wie Unrecht gar nicht gibt und alles
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