Die zweite Todsuende
«Was dagegen, wenn ich das austrinke?» Und als Boone nickte, leerte er das Glas auf einen einzigen Zug, ehe sie gingen.
Besagtes Erlebnis hatte Jason, als er und Boone durch etliche Kneipen in der Bowery gezogen waren, wo man schon für 55 Cent einen Doppeldecker bekommt. Die meisten Kunden waren allerdings klug genug, sich an Bier zu halten. Jason und der Sergeant kamen bei der Grand Street aus der Bowery und bewegten sich im Zickzack in östlicher Richtung. Sie bogen in die Eldridge Street ein, wo Jason sein Auto abgestellt hatte. An der Ecke hielt ein Streifenwagen, dessen Blaulicht noch blinkte.
Anscheinend waren zwei alte Wermutbrüder mit abgebrochenen Flaschen aufeinander losgegangen - ungewöhnlich, denn Wermutbrüder besaßen kaum Kraft genug, auch nur den Verschluß von einer Flasche abzuschrauben. Diese beiden hatten sich jedoch gegenseitig zu Hackfleisch verarbeitet - ein ausgeschlagenes Auge lag auf dem Bürgersteig -, und offenbar war einer der beiden bereits tot, während der andere, der aus vielen Schnittwunden blutete, flach und keuchend atmete, was ihm sichtlich schwerer wurde.
Die junge Besatzung des Streifenwagens, die die beiden Streithähne aufgegriffen hatte, war ratlos. Einer hatte über Funk Hilfe angefordert, doch wußte keiner von beiden, wie sie den Blutverlust des Sterbenden aufhalten oder ihn verbinden sollten, es sei denn, sie hätten ihn mit Bandagen umwickelt wie eine Mumie. Blut floß über den Bürgersteig in die Gosse, kein Rinnsal, sondern ein regelrechter Blutstrom. Der süßliche Geruch hing widerlich in der warmen Nachtluft. Boone hatte so etwas seit langer, langer Zeit nicht mehr erlebt, ja, fast vergessen, wie Blut roch.
Plötzlich fing er an zu laufen, und zwar schnell, und Jason mußte die Beine in die Hand nehmen, um ihn einzuholen. Boone stürzte in die erste offene Kneipe und bestellte Schnaps und Bier. Mit geübter Handbewegung kippte er das Glas, spülte mit Bier nach und bestellte noch eines, ehe Jason Zeit hatte, seine massige Gestalt auf einen Barhockei zu hieven.
Oh-ho, dachte der schwarze Polizist. Dabei kommt nichts Gutes raus!
Und so war es auch. Es dauerte keine Stunde, und Boone war so betrunken, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und dummes Zeug redete. Jason hielt sich an eine der Grundregeln, die Boone ihm eingepaukt hatte - «Widersprich nie einem Betrunkenen, einem Verrückten, einem Bewaffneten oder einer Frau» stimmte allem zu, was der Sergeant sagte, und versuchte, ihn aus der Kneipe zu locken. Boone wollte nicht, bestand vielmehr darauf, noch eine Lage zu bestellen. Mit der Zeit hörte er auf zu lallen, verfiel in Schweigen, wurde ausgesprochen mürrisch und wankte zum Klosett.
Während er fort war, ging Jason mit sich zu Rate. Mit einer solchen Situation hatte er noch nie fertigwerden müssen. Zwar hatte er sich mit Kollegen selbst schon sternhagelvoll gesoffen und dann auch einen oder mehrere nach Hause gebracht, wobei alle laut grölten und furchtbar angaben. Boone jedoch war ranghöher als Jason, ein Vorgesetzter, und er wußte nicht einmal, wo der Sergeant wohnte. Jason überlegte, ob er Delaney anrufen und um Rat bitten solle, fand dann aber, das sei wohl nicht das richtige. Er wußte nicht, was tun.
Boone blieb beunruhigend lange auf dem Klo, und Jason glaubte schließlich, er müsse dort ohnmächtig geworden sein. Als er nachsah, war Boone keineswegs ohnmächtig, vielmehr hockte er in einer Lache aus Erbrochenem und Urin am Boden, den Rücken gegen die schmutzige Kachelwand gelehnt und war dabei, den Revolverlauf in den Mund zu stecken. Langsam krümmte sein Zeigefinger sich um den Abzug. Jetzt wäre ums Haar Jason T. Jason ohnmächtig geworden.
Er nahm Boone den Revolver aus der Hand und klapste den Sergeant auf die Wange, um ihn zu sich zu bringen. Nach einer Weile begann Boone zu weinen und schlug die Hände vors Gesicht - sei es, um die Tränen zu verbergen oder um nicht wieder geklapst zu werden. Es gelang Jason mit Mühe, ihn auf die Beine zu bringen und in eine Ecke zu lehnen; dort säuberte er ihn mit Papierhandtüchern, so gut es ging.
Dann beugte Jason sich aus der Hüfte vor und warf sich Boone über die Schulter. Es kostete ihn keine Mühe, sich aufzurichten; er hielt den Sergeant mit einem Arm, trug ihn die Eldridge Street entlang bis zu seinem Wagen. Er hatte die Nachmittagsausgabe der Post im Wagen, und breitete sie in kluger Voraussicht über den Rücksitz, ehe er Boone dort hineinverfrachtete.
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