Die zweite Todsuende
Ermordete eine bescheidene Menge Whiskey getrunken hatte, und zwar kurz vor seinem Tod, der nach Schätzung des Gerichtsmediziners am Freitag zwischen zehn und fünfzehn Uhr eingetreten sein mußte. Auf genauere Angaben wollte er sich nicht festlegen lassen.
Jetzt begann eine Doppeluntersuchung. Ausgehend von der Annahme, daß der Maler von einem Dieb oder Einbrecher umgebracht worden war, sichtete eine Gruppe von Detektiven die Unterlagen über ähnliche Verbrechen, hörte sich bei den Nachbarn und den Ladenbesitzern in der Umgebung um und schrieb die Kennzeichen der nahebei parkenden Wagen auf, um deren Besitzer später auszufragen. Siele, Kanalisationsröhren, Mülltonnen und Abfalleimer in einem Umkreis von zehn Blocks wurden nach der Waffe abgesucht. Spitzel wurden ausgehorcht, die Unterlagen der Polizei sowie der Gerichte nach kürzlich erfolgten Entlassungen von Einbruchspezialisten durchgesehen, die Messer bei sich zu führen pflegten.
Eine zweite Gruppe, die von der Annahme ausging, daß Victor Maitland seine verschlossene Tür jemandem geöffnet hatte, den er kannte, und daß er von diesem Bekannten erstochen worden war, schnüffelte im Privatleben des Malers herum, fragte jeden aus, der Maitland kannte und ihm möglicherweise den Garaus gemacht haben könnte. Am Schluß konzentrierten sich die Ermittlungen auf sieben Personen.
Bevor es dahin kam, mußte man sich mit einer erdrückend großen Zahl von Künstlern, Modellen, Kunsthändlern, Kunstkritikern, Prostituierten, Saufkumpanen und entfernten Verwandten des Malers beschäftigen, von denen keiner sonderlich darüber bedrückt zu sein schien, daß es Victor Maitland nicht mehr gab, und die kaum ein Hehl daraus machten, wie gleichgültig ihnen das war. Je nach Bildung und gesellschaftlicher Stellung der Befragten wurde der Tote als alles mögliche beschrieben, von einem «unangenehmen und abstoßenden Individuum» bis zu einem «Scheißkerl».
Nach dieser gründlichen Untersuchung, die etwa sechs Wochen dauerte und Tausende von Arbeitsstunden kostete, war die Polizei der Lösung des Falles nicht näher als an dem Tag, da Saul Geltman den Notruf wählte. Alles war um- und umgewendet worden. Man hatte andere Detektive beigezogen, auf daß unbefangene Augen sich mit dem zusammengetragenen Material befaßten. Die Ermittlungen wurden bis auf Maitlands zweijährige Militärdienstzeit, ja bis auf seine Schulzeit ausgedehnt in der Hoffnung, es könnte sich ein Motiv finden. Nichts.
Einer der Beamten vom Sonderdezernat faßte die Gefühle aller Beteiligten zusammen. «Was soll's?» sagte er verdrossen. «Warum sagen wir nicht einfach, daß der Scheißkerl sich selbst in den Rücken gestochen hat und vergessen die ganze Sache?»
Donnerstags verrichtete Monica Delaney unbezahlte Hilfsarbeit im Krankenhaus. Ehe sie das Haus verließ, übergab sie Delaney eine Liste von Dingen, die erledigt werden mußten: wann und bei welcher Temperatur der Braten in den Ofen geschoben, die Kartoffeln in den Grill gelegt und der Sara Lee-Schokoladepudding aus der Tiefkühltruhe genommen werden mußten. Ernsten Gesichts sah er die Liste durch, wobei ihm die Brille immer weiter herunterrutschte.
«Und anschließend putze ich die Fenster», sagte er.
Sie lachte und streckte ihm die Zunge heraus.
Er ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Die Tür ließ er offen. Er war allein im Haus und wollte jedes unbekannte Geräusch, jedes unerwartete Knistern oder Knarren hören.
Er nahm einen neuen braunen Aktenhefter aus der Schreibtischschublade. Erst hatte er vorgehabt, auf das Etikett zu schreiben: «Tötung des Malers Victor Maitland», doch dann zögerte er. War «Mord an Victor Maitland» nicht passender? Für sein Empfinden bestand ein feiner Unterschied zwischen Tötung und Mord, ein Unterschied, der hinausging über die juristische Definition des Mordes, die «niedrige Motive und Vorbedacht» verlangt.
Delaney versuchte, sich über sein Gefühl klarzuwerden und fand, daß Vorbedacht für ihn das ausschlaggebende Merkmal der Tötungshandlung sei. Der Soldat im Krieg tötet, er mordet nicht. Bei Mord hingegen ist der Vorsatz entscheidend, es sei denn, der Mörder war gedungen. Der Mörder handelt überdies nicht nur mit Vorbedacht, sondern auch aus Haß. Aus kaltem Haß.
War Victor Maitland umgebracht worden, weil er sich gegen einen Einbrecher wehrte, konnte Totschlag vorliegen. War er jedoch von jemand erstochen worden, der ihn kannte und die Tat
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