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Die zweite Todsuende

Die zweite Todsuende

Titel: Die zweite Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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habe nichts gesehen, was mir gefallen hätte.»
    «Ganz recht. Und sind Sie zwischen zehn und halb zwei jemandem begegnet, den Sie kannten? Einer Verkäuferin, einer Bekannten, einer Freundin?»
    «Nein. Niemandem.»
    «Oder haben Sie während dieser Zeit vielleicht jemanden angerufen?»
    «Nein.»
    «Post aufgegeben?»
    «Nein.»
    «Mit überhaupt keinem Menschen gesprochen?»
    «Nein.»
    «Aha. Bitte, verstehen Sie, Mrs. Maitland, wir dürfen nicht die geringsten Nebensächlichkeiten außer acht lassen. Mir scheint, Sie haben sich völlig normal verhalten. Ich hoffe sehr, meine Fragen haben Sie nicht verletzt.»
    «Durchaus nicht, Mr. Delaney.»
    «Hat Ihr Mann Sie betrogen?» fragte er plötzlich überraschend schroff.
    Wenn er sie geschlagen hätte, die Wirkung hätte nicht dramatischer sein können. Sie fuhr zurück, ihr Gesicht übergoß sich mit Röte, und sie hob abwehrend die Hände.
    «Bitte, glauben Sie mir, Mrs. Maitland», fuhr Delaney nun wieder in seinem salbungsvollen Ton fort, «ich bedaure unendlich, eine so indiskret scheinende Frage über Ihr Privatleben stellen zu müssen. Aber Sie begreifen gewiß, daß das unvermeidlich ist.»
    «Mein Mann war der zärtlichste und gütigste Mensch, den man sich vorstellen kann», erklärte sie steif. Ihre Lippen waren weiß. «Ich versichere Ihnen, daß er mir treu war. Er liebte mich, und ich liebte ihn. Er gab dieser Liebe häufig Ausdruck, mit Worten und auf andere Weise. Wir haben eine sehr glückliche Ehe geführt. Eine vollkommene Ehe. Victor Maitland war ein ganz großer Künstler, und ich empfand es als Auszeichnung, seine Frau zu sein. Selbstverständlich kenne ich den schändlichen Klatsch, der über ihn umging, aber ich versichere Ihnen, er war als Ehemann und Vater ebenso vorbildlich wie als Künstler. Das dürfen Sie mir glauben.»
    «Und Ihr Sohn teilt diese Auffassung, Mrs. Maitland?»
    «Mein Sohn ist jung, Mr. Delaney. Im Augenblick macht er eine Identitätskrise durch. Ist er älter und verständiger, wird er begreifen, daß sein Vater ein bedeutender Mann war.»
    «Ein bedeutender Mann, ja. Wie wahr, Mrs. Maitland. Wie treffend! Was ich übrigens noch fragen wollte: Wo ist Ihr Sohn? Ich hoffte, ihn hier vorzufinden.»
    «Im Moment? In der Schule.»
    «Er will gleichfalls Maler werden, nicht wahr?»
    «Etwas in der Art», wich sie aus. «Gebrauchsgraphiker.»
    «Wohingegen Ihr Gatte ein richtiger Maler war, Mrs. Maitland. Der sich auf weibliche Akte spezialisierte. Er war häufig mit unbekleideten Frauen allein in seinem Atelier. Hat Sie das nie gestört?»
    «Ach du liebe Güte!» Sie lachte, ein schrilles Lachen, das nicht übel zu dieser sterilen Umgebung paßte. «Sie haben recht bürgerliche Vorstellungen von Malern, Mr. Delaney. Ich versichere Ihnen, daß der nackte Frauenkörper für die meisten Maler nicht aufregender ist als eine Schale mit Früchten oder ein Blumenstrauß.»
    «Gewiß, gewiß.»
    «Der Körper ist nur ein Objekt, das sie malen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Nein, bleiben Sie sitzen, ich hole es.»
    Mit einem Ruck war sie auf den Füßen und eilte aus dem Zimmer. Sergeant Boone sah Delaney fassungslos an.
    «Donnerwetter», sagte er. «Jetzt sind Sie schon wieder jemand anderer, Chief. Erst Samthandschuhe, dann eine Ohrfeige. Die haben Sie ganz schön aus der Fassung gebracht.»
    «Das war auch dringend nötig», knurrte Delaney. «Sie gibt eine Vorstellung. Haben Sie das nicht mitgekriegt? Solange er lebte, spielte sie die betrogene Frau, und jetzt, wo er tot ist, spielt sie die untröstliche Witwe. Haben Sie schon mal solchen Stuß gehört? Pst! Sie kommt.»
    Mrs. Maitland kam herein und blätterte dabei in den Seiten eines großformatigen Buches. Delaney bewunderte die Art, wie sie sich bewegte; energisch, zielstrebig, kraftvoll. Sie fand die Seite, nach der sie gesucht hatte, drehte das Buch um und reichte es Delaney. Boone erhob sich und trat hinter ihn, um dem Chief über die Schulter zu sehen.

    Es war das gleiche Buch, das der Sergeant dem Chief geliehen hatte. Die aufgeblätterte Reproduktion war ein Mehrfarbendruck. Ein weiblicher Akt auf einem rohen Brett, der Rücken dem Betrachter zugewandt. Die Wölbung der angehobenen Schulter, die schmale Taille, die schwellende Hüfte und die abwärts laufende Linie der Beine, all das hatte etwas Fließendes. Das Modell ruhte. Die besten Aktbilder Maitlands strotzten von Lebenskraft und Bewegung, schienen aufzuspringen, ja zu bersten. Auf diesem Bild sah Delaney nur

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