Die zweite Todsuende
Die Namen schreiben wir untereinander, die Zeiten im Viertelstundenabstand daneben. Daran lesen wir auf einen Blick ab, wo die Verdächtigen sich zwischen neun Uhr morgens an diesem Freitag und, sagen wir, fünf Uhr nachmittags befanden. Oder wo sie behaupten, gewesen zu sein. Ich muß hier irgendwo Millimeterpapier rumliegen haben; damit können wir erst mal anfangen.»
Kaum hatten sie angefangen, ihre Zeittafel aufzustellen, rief Monica zum Mittagessen. Sie hatte zwar im Eßzimmer gedeckt, doch gab es nur kalte Küche, und sie mußten sich ihre Brote selbst streichen. Säuerliches Roggenbrot, schwarzer Pumpernickel, lockerer Challeh-Blätterteig. Salami, Schwartenmagen, Braunschweiger, Puterbrust, Tomaten, Radieschen, Pfeffergurken, Scheiben von Gemüsezwiebeln. Hering in saurer Sahne. Oliven. Dillgurken. Kartoffelsalat und kalte gebackene Bohnen. Dunkles Bier für Delaney und Eistee für Boone. Monica setzte sich zu ihnen, naschte hier und dort und ließ nicht zu, daß sie über Berufliches redeten. Folglich blieb ihnen nichts übrig, als zu essen und zu essen. Hinterher halfen sie abräumen.
«Genau richtig», sagte Delaney und gab ihr einen Kuß auf die Wange. «Du hast genau das Richtige getroffen.»
«Wunderbar, Mrs. Delaney», sagte Boone. «So gut esse ich nicht oft.»
Er meinte zu hören, wie sie brummelte: «Könnten Sie aber», doch war er nicht ganz sicher.
Die beiden Männer kehrten zurück ins Arbeitszimmer und machten sich wieder an die Zeittafel. Als sie fertig waren, hielten sie eine hübsche graphische Darstellung in Händen, die von Viertelstunde zu Viertelstunde zeigte, wo die Tatverdächtigen am Mordtag gewesen waren. Farbzeichen machten deutlich, ob die Verdächtigen nur behaupteten, da und da gewesen zu sein, oder ob das von einem Zeugen oder mehreren bestätigt wurde.
Bewiesen war damit selbstverständlich nichts, doch das erwarteten sie auch nicht. Immerhin stand ihnen jetzt bildlich vor Augen, was sich zugetragen hatte, und nachdem sie die Tafel neben Maitlands Skizzen an der Korkwand festgepinnt hatten, betrachteten sie sie wohlgefällig. Die Tafel schien alles in den richtigen Blickwinkel zu rücken.
Der Chief ging in die Küche und kam mit einer Dose Bier für sich und einer Flasche Tonic Water für Boone zurück. Dann setzten sie sich, betrachteten wieder die Tafel, rauchten und kramten in Erinnerungen.
«Ich habe mal an einem Fall mitgearbeitet…» sagten sie beide gleichzeitig, hielten gleichzeitig inne und lachten.
«Sie zuerst», sagte Delaney.
«Ach, was Besonderes war das gar nicht, Sir», sagte Boone. «Ich war damals gerade zur Kriminalpolizei versetzt worden. Die Reviere hatten ihre eigenen Kriminalabteilungen, und ich arbeitete für Zwo-Null. Am Broadway gab es einen eleganten Juwelierladen; der Inhaber verkaufte vor allem gute antike Sachen. Es kamen immer wieder Stücke abhanden. Ganz regelmäßig. Vielleicht ein oder zwei Stücke die Woche. Da nur er und seine Frau im Laden arbeiteten, meinten wir, es müßte sich um Ladendiebstahl handeln. Einbruch schied aus. Folglich brachten wir im Hinterzimmer einen Mann unter, der durch ein Loch die Kunden im Laden beobachtete. Aber niemand klaute was. Es war ein Rätsel. Eines Tages fährt unser Juwelier mit dem Bus die Fifth Avenue runter. Ihm gegenüber sitzt eine wunderhübsche kleine Schnepfe, die eines von den Stücken trägt, die ihm abhanden gekommen sind, eine Rubinbrosche in Form einer Rose, eine viktorianische Arbeit; er glaubte nicht, daß es irgendwo auf der Welt noch ein zweites Stück dieser Art gäbe. Na ja, er war nicht auf den Kopf gefallen, sagte zu der Schnepfe kein Wort, sondern folgte ihr nach Hause, und dann rief er uns. Um es kurz zu machen: Das Mädchen hatte die Rubinbrosche von ihrem Freund geschenkt bekommen. Und woher hatte der sie? Von der Frau des Juweliers. Ist das zu fassen? Der Freund war ein Gigolo, er bediente die alte Dame, solange von ihr was zu holen war. Ich mußte es dem Juwelier beibringen, und das war alles andere als angenehm. Worauf ich hinauswill ist folgendes: Wären der Juwelier und die Schnepfe sich nicht zufällig im Fifth Avenue-Bus begegnet, ich bezweifle, daß wir jemals dahintergekommen wären, bis der Juwelier ausgenommen gewesen wäre wie eine Weihnachtsgans. Es war Zufall, reiner Zufall.»
Delaney nickte. «Meine Geschichte ist ähnlich, nur daß die Lösung mehr auf der Dummheit des Täters beruhte als auf einem Zufall. Es ging um Erpressung. Der Kerl verlangte gar
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