Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
Frühlingsfest. Wir waren in der Herberge dort eingekehrt; Merle sang für unser Essen und die Schlafstatt, und alle waren so nett und freundlich zu uns, dass ich fand, Hardins Höft wäre ein wirklich angenehmer Ort. Im Gastraum, wenn Merle nicht sang, hörte ich zorniges Reden über eine Zwiehafte, die man in Gewahrsam genommen hatte, weil sie die Kühe verhexte, dass sie keine Milch mehr gaben, aber ich achtete nicht darauf. Es hörte sich an wie große Töne nach zu viel Bier. Der Wirt gab uns eine Kammer unter dem Dach. Ich war früh wach, viel zu früh für Merle, aber ich konnte nicht mehr einschlafen, also setzte ich mich ans Fenster und beobachtete das Kommen und Gehen unten in den Gassen. Auf dem Marktplatz strömten Leute zusammen. Ich dachte, es wäre Markttag oder auch ein Frühlingsfest, aber dann brachten sie eine Frau angeschleppt; sie war schlimm zugerichtet und blutete. Sie banden sie an den Schandpfahl, und ich glaubte, sie sollte ausgepeitscht werden. Dann sah ich, dass einige Leute Körbe mit Steinen mitgebracht hatten. Ich weckte Merle und fragte sie, was das zu bedeuten hätte, aber sie sagte, ich solle still sein, es gäbe nichts, was einer von uns tun könnte. Sie befahl mir, vom Fenster wegzugehen, aber ich konnte nicht, ich musste zusehen. Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich passierte; ich wartete darauf, dass jemand kam und ihnen sagte, sie sollten damit aufhören. Ein Mann kam mit einer Schriftrolle und las etwas vor. Dann trat er zurück, und sie fingen an, die Frau mit Steinen zu bewerfen.«
Er verstummte. Harm wusste, dass in den Dörfern drakonische Strafen für Diebe und Mörder üblich waren. Er hatte von Auspeitschungen gehört und dass man Verbrecher aufgehängt hatte, aber er war noch nie dabei gewesen. In der Stille hörte ich, wie er schluckte. Kälte rieselte durch meine Adern. Nachtauge winselte, und ich legte ihm die Hand auf den Nacken.
Das hättest auch du sein können.
Ich weiß.
Harm holte tief Atem. »Ich wollte hinlaufen, ich dachte, irgendjemand müsste etwas tun, aber ich hatte zu große Angst. Ich schämte mich, dass ich so ein Feigling war, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich stand nur da und schaute, und die Steine trafen die Frau. Sie versuchte, ihren Kopf zwischen den Armen zu bergen. Mir wurde schlecht. Dann hörte ich ein Geräusch, wie ich es nie zuvor gehört hatte, als ob ein Fluss durch die Luft brauste. Der Himmel wurde dunkel, wie von Sturmwolken, aber es ging kein Wind. Es waren Krähen, Tom, unzählig viele schwarze Vögel. Ich habe nie so viele auf einem Haufen gesehen, sie krächzten und zeterten, wie sie es tun, wenn sie einen Adler oder Falken gesichtet haben und aufsteigen, um ihn zu vertreiben. Nur hatten sie es nicht auf einen Adler abgesehen. Sie stiegen aus den Hügeln hinter dem Dorf und füllten den Himmel wie ein schwarzes Laken, das an der Wäscheleine flattert. Dann stürzten sie sich unter lautem Geschrei auf die Menge. Ich sah, wie eine auf dem Kopf einer Frau landete und mit dem Schnabel nach ihren Augen hackte. Die Menschen liefen nach allen Seiten auseinander, brüllten und schlugen nach den Vögeln. Ein Pferdegespann ging durch und schleppte den Wagen mitten durch das Getümmel. Es gab einen Lärm, als ginge die Welt unter. Sogar Merle stand auf und kam ans Fenster. Bald waren die Straßen leer, bis auf die Vögel. Sie saßen überall, auf Dächern und Fenstersimsen, die Äste der Bäume bogen sich unter ihrem Gewicht. Die Frau, die gesteinigt werden sollte, die Zwiehafte, sie war weg. Nur die blutigen Stricke hingen noch an dem Pfahl. Dann erhoben sich auf einmal auch die Vögel und flogen davon und wurden nicht mehr gesehen.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Später am Vormittag sagte der Wirt, nach seiner Meinung hätte sie sich ebenfalls in einen Vogel verwandelt und wäre mit den anderen davongeflogen.«
Später, sagte ich mir. Später würde ich ihm erklären, das sei nicht wahr, dass sie vielleicht die Vögel herbeigerufen hatte, als Helfer bei der Flucht, aber dass nicht einmal die mit der Alten Macht einfach eine andere Gestalt annehmen konnten. Später würde ich ihm erklären, dass er nicht fürchten musste, ein Feigling zu sein, weil er der Frau nicht zur Hilfe gekommen war; man hätte ihn nur mit ihr zusammen gesteinigt. Später. Sein Redestrom jetzt war heilsam, wie Gift, das aus einer Wunde läuft. Der gute Arzt lässt es ungehindert abfließen.
Ich hörte ihm weiter zu.
»… und sie
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