Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
ich an seinem Ohr. »Ich mache es kurz und schmerzlos.«
Er wusste Bescheid. Die Entgegnung meines Sohnes war nicht mehr als ein Hauch. »Warte. Ein kleiner Winkel gehört noch mir. Ich kann sie noch eine Weile abwehren, glaube ich. Geben wir ihnen so viel Vorsprung wie möglich.«
Kapitel 26 · Opfer
Obwohl man es im allgemeinen Sprachgebrach das Hohe Reich nennt oder das Königreich in den Bergen, entsprechen weder das Land noch seine Herrscher den in den Sechs Provinzen gängigen Vorstellungen davon, wie ein Königreich beschaffen sein sollte. Man denkt gewöhnlich an ein einziges Volk innerhalb gemeinsamer Grenzen, regiert von einem Monarchen. Auf das Bergreich passt keine der drei restriktiven Definitionen. Anstelle eines einzigen Volkes gibt es die freien Jäger, die wandernden Hirten, Händler und Reisende mit einem Netz festgelegter Wege, neben solchen, die auf weit verstreuten Höfen den Boden bestellen. Man kann leicht begreifen, dass diese verschiedenen Gruppen kaum gemeinsame Interessen haben.
Vor dem eben geschilderten Hintergrund versteht sich von selbst, dass der Herrscher dieser Stämme kein König im herkömmlichen Sinn ist. Vielmehr begann die Dynastie mit einem Mediator, einem weisen Mann, der sich darauf verstand, die Streitigkeiten zu schlichten, die unvermeidlich zwischen Völkerschaften mit derart unterschiedlicher Lebensweise auftreten mussten. Die Sagen von den ›Chyurdakönigen‹ berichten von Herrschern, die willens waren, sich selbst als Geisel anzubieten, nicht allein ihren Besitz, sondern auch das eigene Leben für ihr Volk hinzugeben. Aus dieser Tradition erklärt sich der Ehrentitel, den die Bergstämme ihren Herrschern verliehen haben. Nicht König oder Königin nennen sie ihren Souverän, sondern Opfer.
CHIVALRIC WEITSEHER:
›VOM KöNIGREICH IN DEN BERGEN‹
Sie rückten näher, trieben heran wie Sand, bis Lutwins Leute dunkel zwischen dem Licht und mir standen. Vor dem hellen Hintergrund war es schwer, ihre Züge zu erkennen, doch nachdem meine Augen sich umgewöhnt hatten, unterzog ich jedes einzelne Gesicht einer genauen Musterung.
Es waren hauptsächlich junge Männer, dazwischen vier junge Frauen, alle mehr oder weniger in Lutwins Alter. Keiner von den Eltren vom Alten Blut war hier, die Gescheckten war ein Ideal der jungen Generation. Vier der Männer hatten die gleichen quadratischen Zähne: Brüder oder wenigstens Vettern. Manche wirkten fast neutral, aber keiner schien Sympathien für den Prinzen oder mich zu hegen. Wenn ich bei einem ein Lächeln sah, war es schadenfroh. Ich öffnete wieder den Kragen. Falls Jinnas Amulett seine Wirkung entfaltete, merkte ich nichts davon. Ich fragte mich, ob mir Verwandte des Mannes gegenüberstanden, den ich am Saumpfad getötet hatte. Tiere waren auch da, allerdings weniger, als ich erwartet hätte. Zwei Hunde, eine Katze, und ein Mann trug einen Raben auf der Schulter.
Ich schwieg. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Die Katze des Prinzen, die vor uns auf dem Boden kauerte, hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Einige Male hatte ich bemerkt, wie sie den Blick abwandte, weil etwas ihre Aufmerksamkeit erregte, aber jedesmal richtete sie ihn gleich wieder auf den Jungen, mit einer brennenden Intensität, die den Katzenaugen einen menschlichen Ausdruck verlieh.
Lutwin kam vom Höhleneingang zurück, wo er mit verlogener Herzlichkeit von Fürst Leuenfarb Abschied genommen hatte. Jetzt trat er zuversichtlich lächelnd vor uns hin.
»Ich denke, auf dein Messer können wir jetzt verzichten«, bemerkte er. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt.«
»Vielleicht wäre das zu früh«, warnte ich, und dann musste ich wieder Zuflucht zur Lüge nehmen. »Eben erst wollte der Junge sich losreißen und nur das Messer hat ihn bewogen, es sich anders zu überlegen. Ich werde es ihn als Ermahnung weiter spüren lassen, bis sie …« Ich suchte nach Worten, »ganz in ihn eingedrungen ist.« Ein, zwei Gesichter verzogen sich unbehaglich. Ganz bewusst wiederholte ich es noch einmal, mit anderen, unmissverständlichen Worten: »Bis Peladine seinen Körper ganz und gar in Besitz genommen hat.« Ich sah eine Frau krampfhaft schlucken.
Lutwin schien nicht zu merken, dass einigen seiner Gefolgsleute nicht ganz wohl in ihrer Haut war. Sein Benehmen blieb unverändert leutselig. »Ich bin anderer Meinung. Es missfällt mir, eine Kehle bedroht zu sehen, die in Kürze einem Mitglied meiner Familie gehören wird. Dein Messer,
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