Die Zwillingsschwestern
Polnik sich an die Arbeit machte. Eine halbe
Minute später brachte er ein Blatt Papier zum Vorschein. »Schauen Sie,
Leutnant, noch ein Brief!«
Der
Bogen trug den Aufdruck: Paradise Motel, Pine City, und der Brief
lautete:
Liebe Thelma!
Obiger
Anschrift kannst Du entnehmen, wo ich mich auf halte. Ich stehe hier vor einer
großen Sache. Also bitte, Thelma, gedulde Dich noch ein paar Tage und halte die
Wölfe zurück. Dann ist alles in Ordnung, und Du bekommst Deine ausstehenden
Zahlungen und vielleicht noch eine Prämie. Aber bitte, unternimm keine
voreiligen Schritte, wie Du in Deinem Brief erwähnt hast, weil das die ganze
Sache ruinieren könnte, die ich...
Der
Brief war nie vollendet worden. Das Datum in der rechten oberen Ecke war drei
Tage alt. Eines war sicher, Howard Davis brauchte sich über Unterhaltszahlungen
keine Gedanken mehr zu machen. Sorgfältig verwahrte ich beide Briefe in meiner
Tasche. Zwei Minuten darauf waren wir mit der Durchsuchung fertig, ohne daß wir
noch etwas Interessantes gefunden hätten.
Walnuß
folgte uns begierig bis zum Wagen; er hüpfte hinter uns her, wobei die großen
Schnallen seiner alten Hosenträger aufregend im Sonnenlicht blitzten. »Haben
Sie was gefunden, Leutnant?« fragte er immer wieder mit bohrender Neugier.
»Haben Sie rausgekriegt, was mit ihm passiert ist — was ist er, einer der
großen Gangster oder so was?«
»Er ist
ermordet worden«, sagte ich ihm, als wir in den Wagen stiegen.
»Ermordet?«
Er gackerte vor Entzücken. »Wissen Sie schon, wer’s war, Leutnant?«
»Klar«,
sagte ich. »Ein Mädchen.«
»Wie
ich schon immer sage, Frauen bedeuten nie was Gutes. Jawohl! Schon ‘ne Ahnung,
wer sie ist?«
»Natürlich«,
sagte ich mit dienstlich-strenger Stimme. »Wo, sagten Sie noch, wohnt Witwe
Smee?«
»Ein
Stück weiter an der Straße.« Walnuß starrte mich an, und seine Lider klappten
in schneller Folge auf und nieder. Dann erst wurde ihm die volle Bedeutung
meiner Frage richtig klar. »He!« würgte er heraus. »Sie meinen doch nicht etwa...?«
Ich
schaltete und trat aufs Gas. Als wir die Straße erreichten, schaute ich mich
um; doch hinter uns war nur eine dichte Staubwolke zu sehen. Das würde ihm eine
Lehre sein, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, ‘dachte ich, und
ordentliche Hosenträger anzuziehen, wenn er sich das nächstemal mit einem
Polizisten unterhielt. Feuerwehr! So was!
Um halb
sechs kamen wir zum Büro zurück. Ich ließ Polnik aussteigen und trug ihm auf,
mit San Francisco Verbindung aufzunehmen und feststellen zu lassen, ob Thelma
Davis sich noch dort aufhielt und ob es möglich sei, in Erfahrung zu bringen,
was sie am Tage zuvor getan hatte. Dann fuhr ich nach Hause.
Punkt
elf Uhr nachts klopfte ich mit dem Klopfer an der Tür des Dach-Appartements.
Prudence Calthorpe öffnete die Tür und lächelte. »Wie ich sehe, sind Sie
pünktlich, Leutnant. Ist das ein Ergebnis Ihrer polizeilichen Ausbildung?«
»Zum
einen Teil, und zum anderen eine Folge Ihrer Einladung.«
»Kommen
Sie doch herein«, sagte sie. »Es zieht, wenn Sie in der offenen Tür stehen.«
Ich
folgte ihr gehorsam ins Wohnzimmer. In dem hochgeschlossenen, enganliegenden
weißen Gewand, das ihr bis unter die Knie reichte, wirkte sie in höchstem Grade
elektrisierend. Zwei schwarze Panther lauerten an ihren Schultern. Der Rock war
vom Knie bis zur Hüfte geschlitzt.
Als sie
vor mir herging, war mir ein kurzer Blick auf ihren gerundeten Schenkel
vergönnt. Entweder war der Schenkel sehr lang, oder der Schlitz ging höher
hinauf, als ich gedacht hatte.
Ich
ließ mich in einem bequemen Sessel nieder und sah Prudence zu, während sie
etwas zu trinken eingoß.
Auf dem
Tischchen neben mir stand ein Fotorahmen, und ich nahm ihn und schaute ihn mir
ein bißchen genauer an. Das Foto zeigte einen Mann um die Vierzig, mit den
kräftigen Schultern eines Rugbyspielers und einem entschlossenen Gesicht.
Blondes Haar, kurz geschnitten, an der Seite gescheitelt und zurückgekämmt.
Seine Augen gönnten einem bettelnden Blinden nicht den Platz auf dem
Bürgersteig, und sein Mund war ein dünner gerader Strich über einem
ausgeprägten Kinn. So sahen die kleiden in den Comics aus, bis auf diese Augen,
die störten mich.
»Wenn
ich Ihnen das nächstemal etwas zu trinken bringe«, sagte eine Stimme nahe bei
meinem Ohr, »sollte ich vielleicht vorher läuten.«
Ich
schaute auf und sah Prudence, die unmittelbar vor mir stand und mir ein Glas
entgegenhielt.
Weitere Kostenlose Bücher