Die Zwischenwelt (German Edition)
jemals zu ihrem Verhalten gehört hatte, war von ihrem Chef gekommen.
„Ich habe gesehen, du warst sehr unsicher und zerbrechlich beim Vorstellungsgespräch. Man sah es dir an, dass du lange arbeitslos warst.“
Fiona hätte damals gerne geantwortet: „Nein, du Idiot! Nicht wegen der Arbeitslosigkeit war ich kaputt, sondern weil mein Vater in einer Obduktionshalle lag und meine Welt innerhalb von Sekunden zusammengebrochen war!“ Sie war aber einfach stumm geblieben, weil ihr keine andere Antwort als diese in den Sinn gekommen war.
Fiona hätte sich bestimmt mehr Mühe gegeben, wenn sie von ihrer Arbeit und deren Umfeld überzeugt gewesen wäre. Aber nicht nur die Arbeitskollegen fand sie ermüdend, sondern auch die Arbeit an sich. Jeden Tag war es dasselbe: Streitereien zwischen Ex-Ehemann und Ex-Ehefrau wegen dem Unterhalt oder zwischen Geschwistern, wenn es ums Erbe ging. Eigentlich verdiente sie ihr Geld dank der Streitereien anderer Leute.
Als sie am Abend mit dem Zug wieder nach Hause fuhr, fiel ihr auf, dass Ernst ihr Leben immer noch bestimmte. Genervt holte sie einen Apfel aus ihrer Tasche und biss ein Stück ab. Ausnahmsweise war es ihr in diesem Moment egal, ob sie jemand kauen hörte. Ihre Gedanken kreisten immer um dasselbe Thema: Ernst war weg, aber er war immer noch allgegenwärtig. Genau wie damals, als sie von Zürich in eine weit entfernte Stadt umgezogen war um zu versuchen, sich weiterzuentwickeln. Sie hatte gehofft, die räumliche Distanz würde ihr helfen, sich von ihm loszumachen, aber er war ihr Schatten geblieben, ob er lebte oder nicht, denn sie hatte seine Gedanken verinnerlicht. Fiona war jetzt ganz klar, dass nicht sie, sondern er diese Arbeit wollte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr hasste sie ihre Arbeit, ihr Leben und ihre Situation. Eigentlich stellte sie alles in Frage. Eigentlich war ihr Traumberuf schon immer Malerin gewesen, aber ihr Vater hatte es ihr verboten mit der Begründung, das sei kein richtiger Beruf.
Fiona wurde rot und immer röter – sie war beinahe dabei, zu explodieren. Ein Gefühl blähte sich auf in ihr, sie konnte es kaum noch kontrollieren und sie hatte große Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ja, es war Hass, stellte sie noch fest, sehr viel Hass. Der Apfel knallte und kleine Stücke des Apfels spritzten in alle Richtungen – sie hatte ihn zerdrückt. Alle Passagiere des Zugwagons schauten jetzt in ihre Richtung und starrten sie an.
Fiona erhob sich ruckartig. Einige Apfelsafttropfen bahnten sich ihren Weg den dunkelblauen Anzug entlang nach unten. Hasserfüllt erwiderte sie die erstaunten Blicke. Mit sicherem Gang marschierte sie zur Tür. Nein, der Zug war noch nicht angekommen – er raste immer noch durch die verschlafenen Felder. Sie ergriff die Klinke und zog mit Wucht – nichts passierte, die Tür ging nicht auf. „Verdammte Tür!“, schrie Fiona, während sie hysterisch daran rüttelte.
Zurück zu ihrem Sitz konnte sie nicht mehr gehen und nachdem ihre Wut sich ein wenig gelegt hatte, wurde ihr der Auftritt sehr peinlich. So stand sie, immer noch vor Aufruhr zitternd, bei der Tür und wartete dort, bis der Zug zwanzig Minuten später am Bahnhof ankam.
Zu Hause angekommen warf sie sich auf das Sofa. Ein Wust von Gedanken schoss ihr durch den Kopf: „Wieso ist Vater gestorben? Hat ihn Sibylla getötet, weil sie ein Verhältnis mit Markus hat? Wahrscheinlich hat sie ihn vergiftet – ja, das würde zu ihr passen: Hexen vergiften ihre Männer; ein Mann hätte ihn mit einer Waffe getötet. Aber hatte Markus von ihren Plänen gewusst? Ich muss mit dem Arzt sprechen, der Vater obduziert hat. Ja, das ist dringend jetzt, ich kann nicht mehr warten.“
Am Tag danach meldete sie sich krank. Es kam ihr gerade gelegen, mit dem Arzt zu sprechen und sich deswegen frei zu nehmen, denn sie hatte auch Angst bekommen, wieder mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. Ein Gespräch mit einem Arzt war für sie eine gute Entschuldigung, zu Hause zu bleiben, auch wenn sie nur telefonisch mit ihm sprechen würde. Eine alte Angst schien wieder neu zu erwachen.
Ihre Mutter Martina hatte sich damals schon mit dem Arzt unterhalten; sie hatte einen persönlichen Termin vereinbart und auch Fiona gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber Fiona hatte damals nichts davon wissen wollen.
Nervös wählte sie die Nummer der Anatomieabteilung und erreichte tatsächlich sogar die zuständige Person. Zehn Minuten später legte sie ratlos den Hörer nieder. Die tiefe Stimme
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