Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
die Sirene ertönen. Ein liebevolles Gefühl überkam ihn: Deshalb bin ich hier.
Er fand sie in der Küche. Sie stand vor einem wuchtigen Herd mit kochenden Töpfen. Es war laut und heiß hier drin. Geschirr klapperte, die Schwestern liefen hin und her, und im Speisesaal schwoll der Lärm aufgeregter Stimmen an, als die Kinder sich draußen versammelten. Amy hatte ihm den Rücken zugewandt. Ihr schwarz schimmerndes Haar reichte in einem dicken Zopf bis zur Taille. Zögernd blieb er in der Tür stehen und beobachtete sie. Sie war anscheinend völlig in ihre Arbeit vertieft; mit einem langen Holzlöffel rührte sie in einem Topf, kostete und gab ein bisschen Salz hinein, und dann lief sie leichtfüßig hinüber zu einem der Ziegelöfen und zog mit einem langen Paddel ein halbes Dutzend frisch gebackene Brote heraus.
» Amy.«
Sie drehte sich um. Sie trafen sich in der Mitte der betriebsamen Küche, und nach einem Augenblick der Unsicherheit umarmten sie einander.
» Die Schwester hat mir gesagt, dass du hier bist.«
Er trat einen Schritt zurück. In ihrer Berührung hatte er es gespürt: Da war etwas Neues in ihr. Längst verschwunden war das stimmlose, traumatisierte, heimatlose Kind mit den verfilzten Haaren und den zusammengesuchten Kleidern. Der Lauf ihres Alterns schien schubweise vonstattenzugehen und war weniger eine Sache körperlichen Wachstums als vielmehr einer immer tiefer reichenden Selbstgewissheit, als nehme sie nach und nach ihr Leben in Besitz. Und immer dieser Widerspruch: Die Person, die da vor ihm stand, allem Anschein nach ein junger Teenager, war in Wirklichkeit der älteste Mensch auf der Erde. Peters lange Abwesenheit, eine Ewigkeit für Caleb, war für Amy nicht mehr als ein Augenblick gewesen.
» Wie lange kannst du bleiben?« Sie ließ sein Gesicht nicht aus den Augen.
» Nur heute Nacht. Ich muss morgen wieder abrücken.«
» Amy«, rief eine der Schwestern vom Herd herüber, » ist diese Suppe fertig? Da draußen wird es laut.«
Amy rief knapp über die Schulter. » Moment.« Dann sagte sie zu Peter: » Wie sich zeigt, bin ich keine so schlechte Köchin. Halte mir einen Platz frei.« Rasch drückte sie seine Hand. » Es tut wirklich gut, dich zu sehen.«
Peter ging hinaus in den Speisesaal, wo die Kinder sich, nach Alter geordnet, an langen Tischen niedergelassen hatten. Ein ohrenbetäubender Lärm herrschte hier, ein Dröhnen wie von einer gewaltigen Maschine. Er setzte sich neben Caleb ans Ende einer Bank, als Schwester Peg vorn erschien und in die Hände klatschte.
Es war, als habe der Blitz eingeschlagen. Angespannte Stille erfüllte den Saal. Rings um jeden Tisch herum reichten die Kinder einander die Hände und senkten die Köpfe. Peter wurde in den Kreis aufgenommen, von Caleb auf der einen Seite und einem kleinen Mädchen mit braunem Haar, das ihm gegenübersaß.
» Himmlischer Vater«, begann die Frau und schloss die Augen, » wir danken dir für dieses Mahl, für unsere Gemeinschaft und für den Segen deiner Liebe und Fürsorge, den du uns in deiner Barmherzigkeit schenkst. Wir danken dir für den Reichtum der Erde und des Himmels über uns und auch für den Schutz, den du uns gibst, bis unser kommendes Leben beginnt. Und schließlich danken wir dir für die Anwesenheit eines besonderen Gastes, eines unserer tapferen Soldaten, der nach einer gefährlichen Reise heute Abend bei uns sein kann. Wir bitten dich, behüte ihn und alle seine Kameraden auf all ihren Wegen. Amen.«
Ein Chor von lauten Stimmen antwortete: » AMEN .«
Also hatte Schwester Peg anscheinend doch nicht allzu viel dagegen, dass er hier war. Er war ehrlich gerührt. Das Essen wurde aufgetragen: Kessel mit Suppe, Brot in dicken, dampfenden Scheiben, Krüge mit Wasser und Milch. Am Kopfende eines jeden Tisches löffelte eine Schwester die Suppe in die Schalen und reichte sie am Tisch hinunter, und die Krüge machten die Runde. Amy schob sich neben Peter auf die Bank.
» Sag mir, wie du die Suppe findest«, forderte sie ihn auf.
Sie war köstlich– das Beste, was er seit Monaten gegessen hatte. Das Brot war so weich und warm in seinem Mund, dass er am liebsten gestöhnt hätte. Er widerstand dem Drang, um Nachschlag zu bitten, weil er dachte, das sei unhöflich, aber kaum war seine Schale leer, kam eine Schwester und brachte ihm eine neue.
» Wir haben nicht oft Besuch«, sagte sie, und ihr Gesicht war rosig vor Verlegenheit. Rasch huschte sie wieder davon.
Sie sprachen über das Waisenhaus und
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