Die Zwölf Türme (German Edition)
eigenen Vorstellungen verzerrte Abbildung der Persönlichkeit, für die er sich selbst immer gehalten hatte, war auch die ihm nun gezeigte dunkle Seite seines Charakters nur ein Teil des wahren Charles Garrett - es war wirklich und wahrhaftig ein Teil von ihm, so schwer es ihm auch fiel, das anzuerkennen. ABER ER MUSSTE ES ANERKENNEN. ES WAR DIE WAHRHEIT !
Der Schock war schmerzhaft und fast unerträglich für ihn. Sein Bildnis von sich selbst, an das er immer geglaubt und woran er sich immer geklammert hatte, war mit einem Male zerstört und aller Illusionen beraubt worden.
Charles sank auf die Knie, das Zepter noch immer haltend, krümmte sich wie unter Schmerzen zusammen und weinte haltlos wie ein kleines Kind....
Nur langsam wich der Schock von ihm und nur allmählich wurde er wieder Herr seiner Sinne.
Eine Stimme erklang; sie kam aus dem Zepter in seiner Hand:
"Der Mensch ist nicht nur das, was sich von ihm in seinen Taten und Worten zeigt oder was er von sich selbst zu wissen glaubt - er ist auch das, was er vor anderen und vor allem vor sich selbst zu verheimlichen sucht!"
"Ist das deine Macht?" fragte Charles, während er sich mit einem Zipfel seines Mantels das tränenfeuchte Gesicht abtrocknete, "Die Macht, jedem die unerbittliche Wahrheit über sich selbst zu offenbaren, der dich zu berühren wagt?"
"Ja, das ist meine Macht", antwortete die metallisch klingende Stimme des Zepters, "Und sie ist tödlich für alle, die sie nicht ertragen können."
"Wirst du mir helfen?" fragte Charles weiter, "Oder habe ich deine Prüfung nicht bestanden?"
"Du hast sie bestanden", antwortete das Zepter, "Denn nun hast du dich endlich als das akzeptiert, was du wirklich bist. Hättest du dich dagegen gesträubt, dann wärest du jetzt dem Wahnsinn verfallen. Nun werde ich dir zu Diensten sein und dich dorthin bringen, wo du die Zwölf Türme finden wirst."
Die Höhlenwände um ihn herum verschwanden auf einmal und Charles hatte das Gefühl, in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund zu stürzen...
Unvermittelt fühlte Charles wieder festen Boden unter seinen Füßen. Als er dann wieder Herr seiner Wahrnehmungen war, erkannte er um sich herum eine düstere, flache Moorlandschaft unter einem wolkenverhangenen, schwarzgrauen Himmel.
Er war im Dämonenland !
Die Sicht war getrübt durch graue Nebelschwaden, die schwer und dicht über dem morastigen Boden schwebten. Hier und da erkannte Charles abgestorbene Bäume, deren blattlose, nackte und kahle Äste fast wie skelettartige Hände wirkten, die in stummer Klage gegen den trüben Himmel gereckt waren.
Nicht ein Laut war zu vernehmen, so als gäbe es hier nichts Lebendiges. Die Luft war schwer und stickig, von keinem Windhauch bewegt, dass einem sogar das Atmen schwer fiel.
Eine unendliche, namenlose Traurigkeit schien auf dem Land zu lasten, unsichtbar und dennoch bedrückend wie ein tonnenschweres Gewicht. Dies war ein Land des Todes, in dem alles Leben ausgelöscht schien.
Charles fühlte die melancholische Atmosphäre fast körperlich, die sich immer stärker auf seinen Geist legte und ihm den Mut nahm.
"Schau´", hörte er die Stimme des Zepters in seinem Kopf, "Dort im Norden sind die Türme. Dort ist dein Ziel."
Schemenhaft konnte Charles die mächtigen Bauwerke erkennen, doch sie schienen ihm unendlich weit entfernt.
Mit einem Mal fühlte er sich einsam und verlassen, als wäre er das einzige lebende Wesen im ganzen Universum und Todessehnsucht überkam ihn. Eine drückende Müdigkeit legte sich auf seinen Geist und er spürte den fast unwiderstehlichen Drang, sich einfach hinzulegen und auf den Tod zu warten, in welcher Gestalt dieser auch immer kommen mochte.
"Nimm´ dich zusammen!" mahnte ihn die Stimme des Zepters, "Lass dich nicht von der düsteren Stimmung dieses Landes anstecken, sonst bist du verloren."
Charles ging auf die fernen Türme zu, doch es kam ihm vor, als würde er durch zähen Leim waten; jeder Schritt bedeutete ihm unsägliche Mühsal.
"Vorwärts!!" trieb ihn das Zepter an, "Du darfst nicht stehen bleiben!"
Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, doch er meinte, dass er nur zentimeterweise vorankommen würde. Aber die Stimme des Zepter gab keine Ruhe und trieb ihn immer wieder an, sobald er stehen bleiben wollte. Charles verlor bald jedes Zeitgefühl und meinte bald, dass er schon seit Stunden unterwegs wäre. Die Zeit schien stillzustehen in diesem Todesland, dessen bedrückende Atmosphäre Geist und
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