Diebesgeflüster - Band 3
worüber sie in diesem Augenblick nachdachte, denn sie grübelte immer über etwas nach. Manchmal, wenn ich mit ihr gesprochen hatte, verriet sie mir, woran sie gerade dachte, aber es war mir oftmals zu kompliziert gewesen. Einmal hatte sie darüber nachgegrübelt, wie viele Lebewesen ein alter Baum überlebt hatte – wie viele Kühe, Schafe und Menschen an ihm vorüber gegangen sein mussten, bis er so hoch gewachsen war. Ich hatte ihr geantwortet, dass ich es nicht wüsste, und ihre Antwort darauf wiederum war gewesen: »Ich auch nicht, Constantino, aber es interessiert mich.« Das hatte sie mit ihrer kindlichen, träumerischen, monotonen Stimme gesagt, dass es mir einen Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Trotzdem mochte ich sie so sehr wie meine kleine Schwester Maria. Wie bei jeder Mission, die ich mit Fabrizio und meinen Freunden unternahm, ließ ich sie bei den anderen Straßenkindern zurück. Sie war mir deswegen nicht böse – auch wenn ich einmal länger fort war. Sie wusste, dass ich wiederkommen würde. Und dann brachte ich stets Geld mit, das es uns erlaubte, einige Zeit ohne Stehlen zurecht zu kommen. Sie fragte niemals nach, woher ich es hatte. Dafür war ich ihr dankbar. Ich gab nämlich nicht gerne zu, dass ich gestohlen hatte.
»Weiter!« Wir alle gehorchten Elisa.
Durch Ada ging ein Ruck. Als würde sie schlafwandeln, lief sie uns mit ihrem weißen Kleid voraus. Ihre hellen Haare fielen sanft über ihre Schultern, was ihr ein gespenstiges Aussehen verlieh.
Es war nicht immer so gewesen, dass ich stehlen musste. Meine Schwester und ich wuchsen bei einer Bauernfamilie auf. Unser Vater starb früh und mit dem neuen Mann unserer Mutter kamen wir nicht zurecht. Sein zorniges Gesicht und seine kräftigen Hände plagten mich jeden Abend vor dem Einschlafen. Ich versuchte stets, die Erinnerungen daran zu verdrängen, doch sie kamen immer wieder. Wir hatten noch zwei weitere Geschwister. Sie waren älter. Sie hatten Hoffnung, den Hof zu übernehmen. Für mich blieb nichts übrig, außer jeden Abend meine Schwester zu trösten, die weinend in ihrem Bett saß. Eines Abends hatte ich sie mitgenommen. Ich hatte ein Pferd gestohlen, sie darauf gesetzt und war mit ihr nach Rom geritten. Seitdem lebten wir hier auf der Straße. Es war hart, aber sie hatte nie wieder geweint. Ich war mir sicher, dass Fabrizio und die anderen nichts von meiner Schwester Maria wussten. Das sollte auch so bleiben. Sie war außergewöhnlich – so wie ich – und ich wollte nicht, dass Fabrizio sie überredete, auch in unserer Bande mitzumachen. Das wäre zu gefährlich für sie.
Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Ich wollte das hier beenden. Ich wollte erfolgreich sein. Ich wollte für meine Schwester sorgen können. Um ehrlich zu sein, hatte ich schon öfter gearbeitet. Bei den Bauern um Rom herum war ich bereits bekannt, doch sie brauchten nur Hilfe bei der Ernte. Im Frühjahr und Sommer arbeitete ich in einem Pferdestall, in dem die Pferde der Geistlichen untergebracht waren. Doch die Bezahlung reichte nicht für meine Schwester und mich zum Leben, deswegen musste ich regelmäßig etwas mitgehen lassen.
Ada befahl uns, stehen zu bleiben. Sie verschwand und kam kurz darauf mit Nuccio zurück. Ich reichte ihm die Axt, die schwer in meiner Hand lag. Der große Mann, der sein Haupt senken musste, um nicht an der Decke hängenzubleiben, nahm sie in die Hand, als wäre sie eine Feder. Fabrizio klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter, dann ging es weiter.
Die Fackeln warfen unruhige Schatten auf die Wände. Schatten, die so verzerrt waren, dass man sie kaum noch als menschliche Körper erkannte.
Adalgiso drehte sich immer wieder um – als hätte er Angst, von jemandem verfolgt zu werden. Doch würde uns jemand folgen, hätte Elisa denjenigen bereits gehört. Adalgiso kannte unsere Gruppe noch nicht so gut. Er vertraute uns noch nicht, so wie wir einander vertrauten. Doch das würde noch kommen. Spätestens nach dem nächsten Diebstahl würde er sich vollkommen auf unsere Fähigkeiten verlassen.
In Fabrizios Gesicht zeichnete sich seine Konzentration ab. Er versuchte, möglichst leise zu laufen. Es fiel ihm nie so leicht wie uns anderen. Egal wie vorsichtig er auch seine Füße auf den Boden setzte, man hörte stets einen dumpfen Schlag. In Elisas Ohren musste dieses Geräusch so laut dröhnen wie der Ton einer Fanfare, die mit voller Kraft gespielt wurde. Doch sie beschwerte sich nicht. Sie beschwerte sich
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