Diebin der Nacht
war, warum war sie selbst nicht in der Lage, das kleinste bisschen Freude zu empfinden?
Vielleicht machten ja sowieso alle nichts anderes als ständig zu schauspielern, warum sollte sie also nicht wenistens so tun, als sei sie glücklich?
»Süße, woran denkst du gerade?«, wollte Rose wissen, als sie zum Spiegel zurückkehrte und sich neben sie stellte. »Lass dich durch mein albernes Pfeifen nicht davon abhalten, dich zu beklagen, wenn du das gerne tun möchtest.«
»Rose, tut mir Leid, ich will nicht so pessimistisch sein.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du dich entschuldigst«, betonte sie. »Diesmal bin nämlich ich diejenige, die sich entschuldigen muss. Das quält mich schon seit Mittwoch.«
»Was ?«
»Die Art und Weise, wie du dich vor Paul für uns stark gemacht hast und wir alle einfach wie die Ölgötzen da gestanden sind.«
»Du brauchst dich nicht - «
»Für die Jungs kann ich allerdings nicht sprechen, ich jedoch bin stolz auf das, was du gesagt hast, der Himmel möge dich beschützen. Aber ich hatte so große Angst, Mystere. Nicht nur wegen mir, sondern auch wegen dir.«
»Angst davor, mich zu ermutigen, meinst du das?«
»Ja. Sicher, Paul ist zu alt und gebrechlich, um gefährlich zu erscheinen. Außer, dass Evan und Baylis ihm praktisch aus der Hand fressen. Sie tun alles, was er ihnen befiehlt, egal, als wie dumm oder falsch es sich auch heraussteilen sollte. Das darfst du niemals vergessen, und richte deine Gedanken auf jedwede Möglichkeit, hier herauszukommen. Selbst wenn es wirklich Mrs. Astors Werk ist - kann eine Heirat mit Rafe Belloch dich denn in eine größere Gefahr bringen, als du sie hier erlebst?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie aufrichtig. »Manchmal frage ich mich, ob >Wahl< nicht ein Wort ist, das der Teufel sich selbst ausgedacht hat, um uns verrückt werden zu lassen.«
»Nein, zu diesem Zwecke hat er die Männer erfunden«, berichtigte Rose sie und sie mussten beide lachen. »Wenn die Männer uns nicht mit dem Verstand widerlegen können, so suchen sie sich andere Wege, uns ihren Willen aufzuzwingen.«
»Ich bin mir da nicht so sicher, dass es nur die Männer sind. Mrs. Astor spielt nach den gleichen Regeln und gewinnt immer. Darf ich dich etwas fragen?«
Die plötzliche Veränderung in ihrem Tonfall alarmierte Rose. »Du solltest dich schämen, mich dafür erst um Erlaubnis zu bitten.«
»Es ist nur, dass ... es geht um Evan. Du hattest mal erwähnt, dass er sechs Monate in einer Gefängnisarbeitstruppe verbracht hat. Ist das schon viele Jahre her?«
Rose nickte.
»Vielleicht zwölf Jahre?«
Rose wusste, worauf sie damit hinauswollte; Mystere konnte die Unsicherheit und die Angst in ihren Augen lesen. Sie sah jedoch außerdem Entschlossenheit in Roses angespanntem Gesicht.
»Ja«, antwortete sie und fügte mit fester Stimme hinzu, »etwa um die gleiche Zeit, als du aus dem Waisenhaus weggelaufen bist.«
»Und er arbeitete damals auch schon für Paul?«
»Ja.« Diesmal zögerte Rose nur einen Moment lang und platzte dann schnell mit der Tatsache heraus, von der sie wusste, dass Mystere auf sie hinzielte: »Evans Trupp transportierte oft gespendete Möbelstücke in städtische Waisenhäuser. Paul hatte ihm aufgetragen, seine Augen nach »geeigneten Waisen< aufzuhalten, wie Paul sie nannte. Ich bin mir sicher, dass er so zum ersten Mal von dir gehört haben muss ... nun, von dir und deinem Bruder.«
Möbelstücke ... Mystere erinnerte sich nun, wo und wann sie Evans Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte. Er war mit mehreren anderen unrasierten Zuchthäuslern in gestreifter Kleidung und gestrickten Mützen zusammen gewesen, die neue Bettgestelle in das oberste Stockwerk des Jersey-Street-Waisenhauses getragen hatten. Die Kinder waren alle in den Aufenthaltsraum gejagt worden ... und Evan würde - vor allem nach Pauls Unterweisung - mit Sicherheit nach Kostbarkeiten jeglicher Art Ausschau gehalten haben. Außerdem konnte er lesen, und Bram hatte den Brief manchmal unter seinem Matratzenbezug versteckt.
Sie schaute Rose an. »Du weißt schon seit einiger Zeit von dem Brief, den ich habe, nicht wahr?«
»Ja. Aber nicht von Anfang an, und gelesen habe ich ihn auch noch nie. Aber Baylis hat mir davon erzählt.«
Mystere fing an zu sprechen; ihre Stimme verließ sie jedoch, und sie war gezwungen, noch einmal von vorn anzufangen. »Rosie, was ist mit Bram? Haben Paul und die Jungs dafür gesorgt, dass er entführt wurde?«
Rose nahm Mysteres Hände in
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