Diebin der Nacht
einen Vorwand, um Pauls Antwort abschätzen zu können. Anstatt jedoch auf die Soiree selbst einzugehen, konzentrierte er sich auf Rafe.
»Mr. Rafael Beiloch«, grübelte er zerstreut. »Und ich hatte mich die ganze Zeit über schon gewundert, warum dieser Mann den Onkel seiner Verlobten kaum grüßt.«
Diese Antwort bereitete ihr Sorgen. Sie fragte sich, wie viel er wohl von Rafes Mitwisserschaft ahnte. Vorsichtig fragte sie nach: »Wie meinst du das ?«
»Schon gut. Nein, ich gehe nicht«, antwortete er ihr schließlich. »Caroline hat sich bereit erklärt, mich zu entschuldigen.«
»Aber ... warum hast du die Soiree mir gegenüber nicht zumindest erwähnt?«
»Warum ? Du hast es doch auch so rausgekriegt, oder?«
Seine hintergründige Antwort überzeugte sie nur noch mehr davon, dass er etwas wusste und es für sich behielt. Sie fand jedoch nicht den Mut, ihn direkt danach zu fragen. Selbst jetzt, wo er alt und gebrechlich war, war er kein Mann, den sie unbedingt in die Enge treiben wollte.
»Aber warum willst du nicht, dass ich gehe?«, fuhr sie unbeirrt fort.
»Geh oder geh nicht, das ist mir völlig egal. Aber ist es dir niemals in den Sinn gekommen, dass es vielleicht klüger wäre, deiner Anwesenheit durch gelegentliches Fernbleiben mehr Wert zu verleihen?«
Er schaute zu ihr hinüber, sie stand in der offenen Tür. »Vor allem nach dieser eindrucksvollen Vorstellung, die du und Rafe an Mrs. Astors Abend am letzten Wochenende gegeben habt. Übrigens - Antonia, so hat Caroline mir erzählt, hat sofort das gehässige Gerücht in die Welt gesetzt, dass ihr beide heim lieh für euren Tanzauftritt geprobt hättet. Lance Streeter war ihr dabei behilflich. Du bist auf dem besten Wege, den Konsul des gemeinen Volkes zu erobern, meine Liebe. Das sollte dich freuen.«
»Ganz ungemein«, antwortete sie abwesend, denn sie versuchte noch immer, Pauls neue Argumentation zu verstehen. »Seit wann planst du denn so strategisch, wenn es um öffentliche Auftritte geht? Für gewöhnlich sieht deine Einstellung doch eher so aus, dass du jede Einladung annimmst, die du bekommst. Was ist plötzlich anders?«
»Um mich geht es doch gar nicht, du dumme Gans. Ich bin nur ein alter Mann auf wackeligen Beinen, der süchtig nach Reichtum und Macht ist.«
»Vor allem nach Macht«, erinnerte sie ihn, wenn auch mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Natürlich. Sieh mich doch nur an. Ich habe eine Art Ausgleich für meine nachlassende ... Potenz, wenn du so willst, entwickelt. Das gebe ich zu. Ich bin zu einem Vampir geworden, der umherfliegt und Blut saugt, wo er nur kann.«
»Paul, ich meine doch nur-«
»Du jedoch«, fuhr er fort, »bist kein räuberischer alter Mann, der mit Einschränkungen geschlagen ist. Ich sehe inzwischen, dass ich dich zu sehr in die falsche Richtung gedrängt habe. Willst du vielleicht wie die Vanderbilt- Schweste rn enden, so dankbar, dass du niemals eine Einladung ablehnst? Ich habe es schon immer gesagt, man muss sich nur die alten Sprichwörter anschauen, denn dort findet man Gottes Wahrheit. Allzu große Vertrautheit erzeugt in der Tat Verachtung, wohingegen eine gewisse Unnahbarkeit Ehrfurcht und Respekt einflößt.«
Das ist ein gutes Argument, erkannte sie, aber nichts- destotrotz verdächtig. Nichts von all dem hat ihn bis zur Sheridan-Einladung auch nur einen Funken interessiert.
»Ich freue mich zu sehen, dass du plötzlich an >Gottes Wahrheit< interessiert bist«, antwortete sie schließlich, wobei ihr unterwürfiger Ton die Ironie ihrer Worte ein wenig milderte.
»Ich bin ein Verbrecher«, beharrte er schroff, »kein Ketzer.«
Die Tatsache, dass er sich selbst einen Verbrecher genannt hatte, erschütterte sie so sehr, dass sie in nachdenkliches Schweigen verfiel. Seit vielen Jahren schon beobachtete sie Paul genau. Sie kannte seine Gewissensattacken, die normalerweise mit seinen größeren Übeltaten einhergingen.
»Habt ihr beide euch schon auf einen Hochzeitstermin geeinigt?«, fragte er unvermittelt.
»Wir? Du sprichst mir mehr Macht zu, als ich besitze.«
»Unsinn. Du benutzt nur weniger Macht, als du besitzt, und damit meine ich nicht die psychische. In jedem Fall solltest du dich zu einem Termin entschließen, je eher, desto besser.«
»Paul, seit Tagen benimmst du dich nun schon so seltsam. Worüber machst du dir Sorgen?«
»Wo gehen nur all die Jahre hin?«, erwiderte er ausweichend, während er sich bemühte aufzustehen. »Entschuldige mich, meine Liebe, aber ich werde
Weitere Kostenlose Bücher