Diebin der Nacht
hoffnungslosen Kreatur.
So niedergeschmettert, wie sie sich fühlte, konnte sie zunächst keine andere Reaktion zustande bringen, als stumm loszulaufen. Baylis entkommen zu sein, wäre eine Chance gewesen, die sie hätte nutzen können, sie fühlte jedoch nichts außer Einsamkeit und Verzweiflung. So ging sie die Wall Street in nördlicher Richtung auf den Turm der Trinity Church zu. Mit jeder verstrichenen Sekunde wurde ihr klarer, wie gründlich ihre Hoffnungen zerschlagen worden waren und wie ausgesprochen gewöhnlich und dumm sie in diesem Büro ausgesehen haben musste. Hört mal, Kollegen! Diese Lady hier hat einen Brief.
Viel zu lange schon hatte sie ihre Schwierigkeiten schweigend ertragen und ihre Sehnsüchte und Träume für sich behalten. Der fürchterliche Misserfolg in Sheridans Büro hatte ihr jedoch den Rest gegeben, er bedeutete das Ende all ihrer Hoffnungen. Gerade jetzt brauchte sie jemanden, mit dem sie ihr Elend teilen konnte, irgendjemanden, dem sie nicht egal war. In der Tat die einzige Person, die die ganze Geschichte kannte.
Direkt vor ihr entließ gerade eine Mietdroschke ihren Fahrgast, und Mystere rief dem Kutscher zu, dass erwarten solle. Ihr Bestimmungsort befand sich zwar nur ein paar Blocks um die Ecke den Broadway entlang, aber sie wollte plötzlich keine Zeit mehr verlieren, dorthin zu kommen. Sie eilte nach vom und nahm die Hand des Kutschers, der ihr in den Fahrgastbereich hinter seinem hohen Sitz half.
»Wohin, Ma’am?«
»Zum Astor House Hotel«, antwortete sie entschlossenen.
Sie genoss dieses neue Gefühl, sich zur Abwechslung einmal wirklich nach Rafes Gesellschaft zu sehnen. Natürlich durfte sie es nicht zulassen, dass eine verzweifelte Hoffnung ihr den Blick vernebelte. Es erschien ihr jedoch so, als sei er ihr Freund, wenn auch er selbst sich nicht so bezeichnen würde. Es erschien ihr außerdem so, dass er ein wenig unentschlossen war, was seine rücksichtslosen Pläne anging, und sie betete heimlich, dass er seine Meinung vielleicht ändern würde.
Trotz ihres fürchterlichen Rückschlages in Sheridans Büro hatte sie beschlossen, an ihrer Hoffnung, dass die Katastrophe nicht unmittelbar bevorstand, festzuhalten. Was Paul anging, so konnte Rafe genauso gut Recht haben - der Brief von Breaux könnte als Warnung gedient haben, ohne gleich eine Krise heraufzubeschwören.
Im Grunde genommen spielte das aber kaum eine Rolle. Sie musste aus New York fliehen, bevor Rafe - ob nun Freund oder nicht - zu einer gefährlichen Heirat mit ihr gezwungen werden würde. Und vielleicht würden ja ihr Verschwinden und der anschließende Schock der »oberen Vierhundert« genau in Rafes Pläne passen - ein angemessenes, ironisches Ende dieser turbulenten Episode ihr es Lebens.
Gerade jetzt jedoch, als die Mietdroschke vor dem Hotel an den Randstein fuhr, stellte Mystere fest, dass sie hoffte, Rafe dort anzutreffen, denn sie hatte weder den Wunsch noch den Mut, ihn in seinem Unte rn ehmensbüro aufzusuchen. Ihr Wunsch zu reden, festgehalten und bis an den Rand süßen Vergessens geküsst zu werden schien in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers zu pulsieren.
Sie bezahlte den Kutscher und ging auf die große Drehtür des Hotels zu. Sie war nass, und sie fror, und außerdem sah sie nicht viel besser aus als ein Bettler von der Straße, aber irgendwie betete sie, dass sie ihn finden würde. Plötzlich erschien er ihr so sehr als ein Weg der Rettung, und gerettet werden wollte sie auf jeden Fall.
Sie war vielleicht noch zehn Schritte von der Tür entfernt, als Rafe so plötzlich auftauchte, als hätte das Gebäude ihn ausgespuckt. Im nächsten Augenblick trafen sich schon ihre Blicke.
Ein hoffnungsvolles Lächeln überzog ihre Lippen; den Bruchteil einer Sekunde später wirbelte jedoch Antonia Butler direkt hinter Rafe aus der Tür und hakte sich bei ihm ein, und Mystere hatte plötzlich das Gefühl, als würde das ganze Elend ihres Lebens in diesen einen Moment gelegt.
32
Rafe beobachtete, wie Mysteres ausdrucksvolle Lippen sich zu einem Lächeln öffneten, und er beobachtete auch den ersten Schimmer der Freude in ihren Augen, als sie ihn erblickte. Er schaute sie noch immer an, als sie ein paar Sekunden später Antonia entdeckte. Das Lächeln schwand innerhalb eines Herzschlages dahin, und Mystere drehte sich abrupt. Sie schlängelte sich gewagt durch den Verkehr, als sie den Broadway überquerte und in den City Hall Park flüchtete.
Verdammt, dachte er und war kurz davor, ihr
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