Diebin der Nacht
zu Rillieux, und dieser zeigte sich nach seinen beleidigenden Bemerkungen vom Vortage von seiner besten Seite. Er machte jedoch eine spitze Bemerkung darüber, dass er seine Ziegenlederhandschuhe und seinen Seidenzylinder für Mrs. Astors bevorstehenden Ope rn ball habe reinigen lassen - und erinnerte sie dadurch an ihr Versprechen, die armselige Beute vom Sanford-Ball wieder gutzumachen.
Er zweifelte jedoch nicht an ihrer Geschichte, dass sie den größten Teil des Tages im Park und anschließend in Macys Lesesaal verbringen wollte, denn sie verweilte dort oft ein oder zwei Stunden nach einem Ausflug im Park. Er bot ihr auch nicht die Kutsche an, da er sie selber benötigte.
Trotz ihres neuen Vorsatzes zu sparen, hielt Mystere eine einspännige Mietdroschke an, sobald sie sich außer Sichtweite ihres Sandsteinhauses befand.
»Wie viel für eine Fahrt nach Brooklyn und dann über den Central Park zurück - sagen wir ein paar Stunden, vielleicht auch etwas länger?«
»Festpreis, Ma’am«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Einen Dollar pro Stunde.«
Der Preis war hoch, und er war nach einer raschen Musterung ihres Rockes aus Baumwollleinen und ihrer seitlich geschnürten Stiefel festgesetzt worden. Heute jedoch konnte sie unbekümmert Geld ausgeben.
»In Ordnung«, stimmte sie ohne zu fälschen zu, und er half ihr hinein, ohne seinen Platz hinten aufzugeben.
Schon lange bevor die Brücke eröffnet worden war, hatte Mystere immer dann alleine Ausflüge nach Brooklyn gemacht, wenn etwas Wichtiges ihre Gedanken beschäftigte. Die ruhige Wohnstadt war ein erholsamer, beruhigender, beschaulicher Ort verglichen mit dem von Menschen wimmelnden Moloch direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Es hatte damals fünf Fährlinien gegeben, meistens jedoch hatte sie die Wall-Street-Fähre genommen.
Inzwischen machte die Brücke die Fahrt natürlich schneller und bot einen sensationellen Ausblick, vor allem den Fußgängern, die auf der erhöhten Promenade entlangbummelten: ein geschäftiges Durcheinander von Dampfschiffen, Lastkähnen und stabilen Frachtpaketbooten der Black-Ball-Linie unter ihnen, und zwischen diesen wie Wasserwanzen herumflitzende kleine Skiffs und Segelboote.
Wenn Mysteres Augen dies alles auch registrierten, so konnte sie doch in Gedanken nur bei Rafe Bellochs grausamen, faszinierenden Augen verweilen; sie konnte an nichts anderes denken als an seinen fordernden, leidenschaftlichen Mund, der ihren Körper wie eine Fackel entzündet hatte.
»Wohin nun, Lady?« Die Stimme des Kutschers brachte sie in die Realität zurück, und mit Schrecken stellte sie fest, dass sie schon an dem gotischen Bogen des Brückenturmes auf der Brooklyner Seite vorbeifuhren.
»Biegen Sie ab in den Prospect Park«, wies sie ihn an.
Beschämt durch die Heftigkeit ihrer anstößigen Gedanken beschloss Mystere erneut, es nicht zuzulassen, dass ein paar schamlose Momente unschicklicher sexueller Leidenschaft ihren Untergang herbeiführten, sowohl ihren gesellschaftlichen als auch ihren emotionalen. Für kein Vermögen der Welt würde sie sich einem so eingebildeten, arroganten Mann körperlich hingeben. Sein Verhalten Caroline und Antonia gegenüber und die Art und Weise, wie er sie in diese Gartenlaube ... nun, praktisch gezwungen hatte, um sich ihr mit den Manieren eines gewöhnlichen Gärtnerjungen aufzudrängen ... waren Beweis genug für die Klugheit ihres Entschlusses, ihn zu meiden.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass der Droschkenkutscher sie durch die schmale Öffnung zwischen dem geschlossenen Wagen und seinem Sitz hindurch gespannt anstarrte.
»Verzeihung?«, brachte sie verwirrt heraus, denn sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
»Ich fragte, ob alles in Ordnung sei, meine Dame. Es ist nun schon das zweite Mal, dass ich Sie gefragt habe, wo Sie als Nächstes hin wollen. Wir fahren schon einige Zeit durch den Park.«
»Oh, tut mir Leid. Mir geht’s gut, ich habe nur-«
»Hören Sie, sind Sie sicher, dass Sie den Fahrpreis bezahlen können?«, forderte er sie mit skeptischem Ton heraus. »Was weiß denn ich, vielleicht sind Sie ja aus dem Bellevue Hospital abgehauen und haben die schicken Klamotten gestohlen.«
»Hier sind drei Dollar, um Sie zu beruhigen.« Sie reichte die Geldscheine durch die Öffnung hindurch. »Wie spät ist es, bitte?«
»Gleich elf.«
Ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder, denn es war noch nicht so spät, wie sie befürchtet hatte. Sie musste aber aufhören, an
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