Diebin der Nacht
Verschluss ihres Täschchens aufschnappen, damit dieses bereit sein würde. Da sie den Zeitpunkt ihrer Annäherung stets mit höchster Konzentration auswählte, wartete sie einen Moment ab, in dem Antonia in irgend- etwas vertieft war, das sie gerade dem Kadetten erzählte. Die perlenbestickte Handtasche befand sich in ihrer linken Hand, wo sie zwischen den Falten ihres Kleides hervorlugte.
Sie machte einen geschickten und flinken Schnitt.
Der Ring gehörte ihr.
Um für einen plötzlichen Aufschrei gewappnet zu sein - der jedoch nie eintrat - ging Mystere schnurstracks, jedoch langsamen Schrittes durch die Galerie. In nur wenigen Sekunden befand sie sich auf dem Rasen der Addison-Villa, vorerst also in Sicherheit. Natürlich würde ihr rascher Aufbruch mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht werden, aber bis dahin hatte sie schon vor, sich in ihrem Versteck zu befinden.
Dem Wind ausgesetzt bemerkte sie nun, dass die Nacht für Ende Juni überraschend kühl war. Eine plötzliche, peitschende Böe schnitt wie ein scharfes Messer in ihre ungeschützte Haut und ließ sie wünschen, einen Umhang mitgenommen zu haben. Unter einer Gaslateme sah sie einen Lakaien stehen und rief ihm zu.
»Ja, Ma’am?«, antwortete dieser und lief zu ihr hinüber.
»Besorgen Sie mir bitte eine Mietdroschke. Ich fühle mich nicht wohl und möchte früher nach Hause.«
»Wird sofort erledigt, Miss.«
Er eilte nach draußen auf die Allee. Mystere wusste, dass ihr mit Rillieux noch eine Menge Probleme bevorstanden. Der Aufschrei würde jeden Moment zu hören sein, sobald Antonia ihren Ring vermisste. Sie brauchte noch ein wenig Glück, um nach Hause fahren zu können, den Kutscher zu bezahlen, damit er ihren Fluchtkoffer für sie hinuntertrug und sie in ihr neues Zimmer in die Centre Street brachte, noch bevor sie Paul gegenübertreten musste.
Mitten in diesen Gedanken tauchte plötzlich eine schattenhafte Gestalt aus dem nahe gelegenen Gebüsch auf. Sie vermutete, dass dies ein weiterer Lakai war. Plötzlich jedoch starrte sie auf einen Polizisten, der seine Pistole gegen sie gerichtet hielt, während sie sowohl mit ihrer eigenen als auch dem Rest von Antonias abgeschnittener Tasche in der Hand da stand.
»Das ist also unsere berüchtigte kleine Diebin. Lass mich dich gut anschauen unter dem Gaslicht, damit ich Inspektor Byrnes erzählen kann, wer du bist.« Er trat aus der Dunkelheit hervor, während sie zurückwich.
Plötzlich wurde sie von Panik ergriffen. In ihren Ohren hämmerte das Geräusch ihres eigenen Blutes, das aus ihren Wangen entwich. Sie war erwischt worden. Ihr schlimmster Albtraum würde nun wahr werden.
»Komm hier herüber«, sagte er und machte mit seiner Pistole eine drohende Bewegung in ihre Richtung. »Gib mir deinen Namen, damit ich dich zu Inspektor Byrnes bringen kann.«
Instinktiv machte sie noch einen Schritt zurück.
»Komm hierher, und keine Tricks. Ich habe noch nie eine Dame erschossen, aber für alles gibt es ein erstes Mal - he, du!«
Ein unbändiger Wille zu überleben nahm Besitz von ihr. Gegen jede Vernunft raffte sie ihr Kleid und machte sich davon wie eine wilde Stute, die vor einem Feuer davonläuft. Sie rannte in Richtung der Kutschen. Vielleicht hatte sie vor, eine Mietdroschke zu finden. Vielleicht war ja auch Hush dort und konnte ihr helfen, sich zu verstecken. Sie wusste es nicht. Sie wusste lediglich, dass sie rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her, und wegen des ohrenbetäubenden Lärms ihres eigenen Herzschlags hörte sie weder den Pfiff des Polizisten noch den Aufschrei im Ballsaal, als ein Knall aus dem Revolver des Polizisten zu hören war.
Sie hatte von angeschossenen Hunden gehört, die meilenweit gelaufen waren, um ihr Herrchen zu finden, und die dann tot vor dessen Füßen zusammengebrochen waren. Das Brennen in ihrem Oberarm war wahrscheinlich nicht lebensbedrohlich, der Schmerz war jedoch unerträglich. Noch immer rannte sie, angeschossen wie ein Hund. Selbst als sie über ihr schweres, minzfarbenes Satinkleid stolperte, rannte sie weiter.
So lange, bis ein Paar starker Arme sie in der Dunkelheit ergriffen und in eine wartende Kutsche hineinzerrten.
Verwundet, das Kleid blutdurchtränkt, kämpfte sie gegen ihren Ergreifer. Schraubstockartige, raue Hände drückten sie auf den Sitz hinunter. Dann verrieten seine Worte ihr, dass das Spiel verloren war.
»Erwischt, Lady Moonlight«, freute Rafe Beiloch sich hämisch.
19
Beim Klang von Rafes Stimme wurde Mysteres
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