Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Woher soll ich das wissen!
Das kurze Kapitel hier hat eine andere Aufgabe. Es will versuchen, auf die immer wiederkehrende Frage so mancher Leser zu antworten: Wie wird man Reporter? Oder anders formuliert: Wie kann man – wenn man sich denn vom Reisen und Schreiben das Glück verspricht – den real existierenden Lebensumständen, oft stumpfsinnig, entrinnen? Und wieder seinen Träumen nahkommen? Denn jeder spürt intuitiv: Wenn das Sehnen nie wahr wird, nie wirklich, dann frisst sich die Erinnerung (an die Sehnsucht) wie Säure ins Herz, verpestet wie Giftmüll das Denken.
Nein, muss nicht sein. Manchmal, ja oft sogar, verläuft sich die Säure, wird dünn, ätzt irgendwann nicht mehr und wandelt sich im Laufe der Zeit in ein diffuses Gefühl von Unzufriedenheit, von Frust. Der Traum stirbt diskret und der Träumer richtet sich in seinem traumlosen Leben ein. Hat sich mit den Umständen arrangiert und ein Arsenal von Ausflüchten zurechtgelegt. Um die Treulosigkeit zu rechtfertigen. Kurz, er hat die Utopie verraten, sie eingetauscht für etwas, das ihn nie begeistern wird.
Ob er (sie) verantwortlich ist für den Niedergang? Auch das kann ich nicht sagen. Fest steht: Aus Ex-Träumern werden Tote, diese Scheinlebendigen, die uns jeden Tag über den Weg laufen. Eher friedliche Zombies, die nichts mehr befeuert. Keine Vision, kein Taumel, kein Hunger, kein Sehnen nach einem anderen Dasein. Sie sterben jetzt, mitten im Leben, werden sacht und beständig vom Verlangen nach Bravsein und Mittelmaß erledigt. Ein Phänomen, das ich noch immer nicht verstanden habe. Hat doch jeder nur ein Leben, seines. Und er geht damit um, als gäbe es tausend Dinge, die kostbarer sind.
Um radikal ein Missverständnis zu vermeiden: Hier wird nicht zur gefühlsduseligen Träumerei angespornt. Dafür ist Paulo Coelho zuständig, der bemühte Herr aus Rio de Janeiro, dessen Bücher als Erbauungstabernakel die Ladentische überschwemmen. An lässig durchtrainierten Gedanken feilt er nicht, dafür schenkt er seinen Lesern griffiges Eso-Geseiche. Eine seiner verbalen Hottentottereien hört sich so an: »Folge deinem Herzen, auch wenn es in die Irre geht.« Wer nervenstark genug ist und – ohne ins Koma der Fassungslosigkeit zu rutschen – weiterliest, wird bald erfahren, dass es sich nur um eine scheinbare Irre handelt. Denn der Meister weiß: »Gefühle irren nie.« Soviel forsche Dümmlichkeit hat auch etwas Rührendes. Die Hunderte von Millionen, die überschäumend vor Hingabe und hirnloser Unbedenklichkeit Hitler oder Stalin oder Pol Pot oder anderen Monstern weit offenen Herzens gefolgt sind, immer unbeirrbar von der Richtigkeit ihrer Gefühle überzeugt, oft mörderisch grausam überzeugt, nein, sie sollen nicht zählen. Auch nicht die Hunderte von Millionen Frauen (und Männern), die sich – immer der »inneren Stimme« vertrauend – herzensrein verliebten und irgendwann aufwachten und nicht wahrhaben konnten, um wie viele Lichtjahre sie, nein, ihr Herz, danebengepeilt hat.
Das soll Paulo, den emsigen Sprechblasen-Schmied, nicht kümmern. Das Herz ist der Kronzeuge in Señor Coelhos entrückter Welt, es funkelt immer, es kommt vom Herrgott persönlich, es ist unfehlbar, es strahlt vor Göttlichkeit, es hängt irgendwo im luftleeren Raum, wird nie angefeindet vom tatsächlichen Leben, nie bestochen von dunklen Trieben, nie ausgeliefert unserem Wunschdenken.
Mir ist aufgefallen, dass unser Mann aus Brasilien immer dann zum majestätischen Ton greift, wenn er die peinlichsten Böcke abliefert. Wie diesen hier, auch er passt zum Thema: »Ein Krieger darf den Kopf nicht hängen lassen, denn dabei würde er den Blick auf den Horizont seiner Träume verlieren.« Man hört das Raunen, gleich darauf das vollendete Schweigen seiner Leserschaft. Nachdem hier ein Sprachgigant seinen Gral weltentiefer Rätselhaftigkeiten für uns Sterbliche geöffnet hat. Erhabener hat es noch keiner verkündet. Hier spricht die Vorsehung, hier ruft uns ein Welterlöser die letzten Bausteine für ein gelingendes Leben ins Bewusstsein: Mach nicht schlapp, Mann, auf zum Horizont, dort gibt’s Träume!
Bin ich vom Thema abgekommen? Überhaupt nicht. Mit dem Umweg über Paulo C . wollte ich nur daran erinnern, dass Träumen auch mit Hirn zu tun haben darf, nein, haben muss. Eben mit dem Wissen, dass unsere Sehnsüchte in Verbindung mit unserer Wirklichkeit stehen sollten, zu unserer ganz persönlichen. Bittschön.
Ein Beispiel: Ich habe nie davon
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