Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
großen Haufen zu gehören. (Zudem: Der eitle Satz »Ich schwimme gegen den Strom« ist nichts als der Ausdruck eines Dünkels, mit dem der Kleinbürger gewiss baden geht.)
Literatur-Nobelpreisträger Derek Walcott notierte einmal: »Ich würde gern Wörter schreiben, auf denen noch der Tau des Morgens liegt.« Auf den oben erwähnten Beispielen liegt kein Tau, da liegt der Schimmel nervzehrender Öde. So sollten wir eine Halleluja-Minute für Steven Brill einlegen, den Gründer des amerikanischen Magazins Brill’s Content , der an den Rand eines lausig geschriebenen Artikels schrieb: »Schon mal an Selbstmord gedacht?«
Klarheit
Die Nachwirkungen meines Aufenthalts in dem buddhistischen Kloster in Kyoto trafen erst spät ein: wie die materielle Magersucht. Ich begriff, dass nichts versöhnlicher auf mich wirkt als Leere. Aber es dauerte eben, bevor ich sie zuließ. War ich doch in einer Gesellschaft aufgewachsen, die von dem Drang besessen schien (und scheint), die Welt mit Ramsch zu verstellen. Ich kann mich nicht an zehn Wohnungen oder Hotelzimmer erinnern, bei deren Anblick mich nicht der Wunsch überfallen hätte, mit einem Bulldozer durchzufahren. Um die Atemnot abzustellen.
Erstaunlicherweise hörte diese Lust nach Wenig, bescheidener: nach weniger, nicht auf, als ich begann, als Reporter zu arbeiten. Je weniger Worte, je weniger Adjektive, desto eleganter, ja, intelligenter schien mir ein Text. Die Lust verstärkte sich über die Jahre, nicht zuletzt durch die Lektüre anderer Autoren, die Hohnkübel über jene ausschütten, die mit endlosem Erzählspeck ihre Seiten vollmachten. Max Frisch formulierte es so simpel: »Schreiben heißt weglassen.«
Nachrede
Unter den linken Scheibenwischer eines Autos, aus dem ich eine hübsche Frau steigen sah, steckte ich einst ein Gedicht von William Butler Yeats. Plus meine Telefonnummer. Und irgendwann klingelte das Telefon, die Hübsche rief an. Natürlich, nicht ich hatte sie verführt (sie wusste ja nichts von mir), sondern der irische Dichter. Gabriel García Márquez meinte einmal auf die Frage, warum er schreibe: »Um geliebt zu werden.« Und Katja Lange-Müller weiß: »Ich schreibe, um zu lieben.« In dem Film Der Postmann begeisterte der chilenische Dichter Pablo Neruda seinen Postboten Mario, der ihm jeden Tag eine Ladung Fanpost brachte, für die Magie der Sprache, ja, zeigte ihm an Beispielen, dass ihr Geheimnis in der Metapher liegt. Zuletzt schrieb Neruda für den Briefträger die Liebesbriefe. Damit die Schönste im Dorf sich in Mario, den Sprachlosen, verliebte. Einmal gab Pablo dem Briefträger folgende Zeile mit: »Mi voz buscaba el viento para tocar tu oído«, und meine Stimme suchte den Wind, um dein Ohr zu berühren. Diese Metapher, diese Vorstellung vom Wind, der die Liebesworte zur Geliebten weht, ein solches Bild muss jemandem erst einfallen. Wäre ich Frau, ich würde mich blindlings an den Hals des Erfinders solcher Wörter werfen. Hat er doch Sprache, hat er doch (fast) alles.
EROS
oder
Hütet euch vor den Träumen, die in Erfüllung gehen
Zunächst ein paar erhellende Worte zu den folgenden Texten. Nicht vieles ist trostloser als ein Mann, der von seinen erotischen Heldentaten erzählt. Der Quotient des Fremdschämens auf Seiten des Lesers ist beträchtlich. Weil ein Frauenheld eben kein Held ist, nur ein Gockel, der protzen will mit etwas, das – so machen es die Gentlemen – besser verschwiegen wird. Nicht aus Scham, natürlich nicht. Sondern aus dem souveränen Bewusstsein heraus, dass gewisse Handlungen nicht an die Öffentlichkeit gehören. Sie gehören genossen und innig verwahrt. Wenn ich nun doch sechs Geschichten unter dem Titel EROS vorstelle, dann mit dem Wissen, dass alle sechs nur nebenbei mit dem Thema zu tun haben und dass Eros und Sexualität hier vor allem dazu dienen, wieder einmal – über verschlungene Umwege – von der herzbewegenden Absurdität unseres Lebens zu berichten. Zudem zeigen sie, wie eine Handlung, die sich eher verspielt und übersichtlich anließ, unerwartet eine Drehung bekommen kann, die schwer kontrollierbare Emotionen provoziert. Siehe »Die Vergewaltigung«. Gefühle, die nur am Rande durch die intime Nähe der jeweils Beteiligten ausgelöst wurden. Die aber plötzlich durch andere Umstände rasant an Tempo und Tiefe zulegten. Schöne Tiefen, bedrohliche Untiefen.
FERNANDO
Wir lächelten uns an. Ich stand im Vorraum des Klosters San Francisco und fragte nach der nächsten Führung. Und
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