Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Fernando sagte Ja, obwohl kein weiterer Besucher mehr zu erwarten war. Der junge Kerl verdiente sich nebenbei als Kirchenkenner ein paar Pesos.
Wir zogen los und Fernando deutete mit seinen gepflegten Händen auf Gemälde von Zurbarán, lenkte meinen Blick auf die holzvertäfelten Decken, sprach von dem Wunder, dass dieses Gebäude seit dreihundert Jahren allen Erdbeben Limas widerstanden hatte.
Wie leicht es fiel zuzuhören. Der junge Peruaner war intelligent, ironisch, charmant. Dennoch, je länger er redete, desto weniger passten Gesicht und Worte zusammen. Er schien auf seltsame Weise abwesend. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand: Führung und Verführung lagen unmittelbar nebeneinander. Fernando war homosexuell, kein Zweifel. Seine Worte redeten von Architektur und seine Gedanken handelten von uns. Nichts Tuntiges oder Grelles war an ihm. Im Gegenteil, er war wohltuend diskret. Aber er verfügte über Töne und Gesten, die Männer von Männern unterscheiden.
Ich genoss das. Und fürchtete zugleich, was da auf mich zukam. Reines Glück war das Bewusstsein, begehrt zu werden. Mitansehen zu dürfen, was dieser Mensch inszenieren würde, um mich zu versuchen. Einmal nicht Gockel und Geck, nicht Hochstapler, Falschmünzer und Zauberer sein müssen, um jemanden – immer eine Frau – von sich zu überzeugen. Wie hinreißend das klang. Die Lust lag im Vertauschen der uralten Rollen. Diesmal durfte ich warten, durfte warten lassen, konnte in Ruhe das Angebot studieren. Ein wahrlich neues Erlebnis.
Der Schrecken lag woanders. Dass Fernando etwas anrühren würde, was meine intimsten Phantasien betraf. Phantasien, die großartig oder schmerzhaft in Erfüllung gehen konnten. Seit Jahren schwelte der Wunsch in mir, »genommen« zu werden. Sehr konkret. Beim Liebesspiel Schoß zu sein. Wenigstens einmal eine Ahnung davon zu bekommen, wie es sich anfühlte, wenn ein Mann in mich eindringt. Um diese Erfahrung beneidete ich jeden, der von ihr wusste. Alle drängenden Fragen, die ich Männern und Frauen dazu stellte und alle Antworten, die ich von ihnen gehört hatte, machten mich jedoch nicht wissender.Was immer sie aussagten, ich verstand nichts. Es ließ sich wohl nicht beschreiben. So wenig wie ein Eisenbahnunglück. Oder die Geburt eines Kindes. Oder das schmerzlose Gehen über glutheiße Kohlen. Es ließ sich nur physisch, nur sinnlich begreifen und nie via Sprache einem anderen vermitteln.
Mir wurde klar, dass ich den Zustand leben musste. So verkehrt herum (wörtlich), so gefährlich (gesundheitlich), so verschmäht (moralisch) das Vorhaben auch war. Und so geschah es: Als Fernando eindeutiger wurde und anfing, spielerisch meinen Hals zu berühren, durchzuckte mich die Erinnerung an einen seit Jahrzehnten verdrängten Vorfall: Mein älterer Bruder und ich lagen zusammen im Bett, nackt und mit wachsender Erregung bei der gegenseitigen Erforschung unserer Geschlechtsteile. Hinterher delirierte ich, übergab mich vor Scham und Schuldgefühlen, konnte nicht fassen, mich so gegen Katholizismus und Gott vergangen zu haben. Dass ich wie so viele andere Jugendliche eine Phase latenter Homophilie durchlebte, wusste ich damals natürlich nicht. Ich wusste nur von Fluch und Frevel und dem Hass auf »Arschficker« und »Schwulensäue«.
Die schmalen Finger von Fernando manipulierten nun sanft und schonungslos mein Bewusstsein. So kamen alle Empfindungen zusammen, vollzählig und gleichzeitig: die Neugierde auf meine – möglicherweise – homoerotischen Talente, die Lust auf Intensität, die mögliche Wollust, der mögliche Schmerz, die schiere Angst und – das Bewusstwerden einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit.
Inzwischen standen wir vor Tausenden von Totenschädeln und Skeletten. Hier in den Katakomben hatten die Mönche die Seuchenopfer der Stadt deponiert. Der Peruaner erzählte jetzt von seinem Leben als Lustknabe für Gringos (seine Hauptkundschaft kam aus den USA ). Am bemerkenswertesten war ihm ein Priester im Gedächtnis geblieben, der genussfähig seine christlichen Todsünden auslebte. Der Callboy wurde meist ins Sheraton gerufen, das inoffizielle Eros-Center von Lima.
Nach knapp hundert flüchtig intensiver Nächte überkam den Einundzwanzigjährigen ein Bedürfnis nach Nähe. Er drosselte seinen Verbrauch und verliebte sich in einen blonden Menschen aus Schweden. Nach drei Monaten Liebe kam der Schmerz der Trennung. Seitdem war Fernando aus dem Geschäft. Er war zu sehr verwöhnt von den
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