Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Haut. Ich hätte vor Freude losheulen können: nur Albert und nirgends ein Vergeltung fordernder Großgrundbesitzer.
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Abwesend freundlich verabschiedete ich mich von dem Faktotum und schlenderte zurück Richtung Villa. Ich wusste, dass Albert den Mund halten würde. Er war zwar nicht ganz richtig im Kopf, besaß aber ein freundliches Gemüt. Intime Nachrichten behielt er für sich. Hoffentlich.
Kaum hatte ich die wuchtige, eisenbeschlagene Haustür hinter mir geschlossen, hörte ich von oben ein wüstes Geschrei. Ein jämmerliches, zeterndes Gekreisch. Ich startete durch, die Treppe rauf, den Flur entlang, die letzte Türe links, dort lag Lindas Zimmer. Dazwischen Gedankenfetzen: der Alte durchs Fenster? Alles mit Albert ein abgekartetes Spiel? Weiter kam ich nicht, zu lächerlich, zu abstrus erschienen mir solche Überlegungen. Ich stieß die Tür auf, rasend vor Wut jetzt, auch unberechenbar geworden durch die Angst, die sich in einen Zustand blindwütiger Notwehr verkehrt hatte. Nun war ich bereit zurückzuschlagen.
Ein Blick genügte: kein Vater weit und breit. Nur Linda, noch immer im Bett, und sie schrie, wimmerte, zitterte, rotzte sich ins Gesicht, kratzte sich mit den Fingernägeln über den Busen und schluchzte ununterbrochen: »Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!«
Sie hatte einen Nervenabgang, kein Zweifel. In Erwartung eines mordsüchtigen Erwachsenen hatte sie vorübergehend den Verstand verloren. Während ich die Fenster schloss, durchströmte mich ein außergewöhnlich warmes Gefühl für diese Frau. Ich blieb ein paar Augenblicke still stehen, um es ganz auszukosten. Dann eilte ich ins Badezimmer, holte das Baldrianfläschchen und zwei Librium. Mit sanfter Gewalt musste ich mich an sie heranmachen. Sie schlug noch immer um sich und es dauerte, bis sie Tropfen und Tabletten intus hatte. Ich blieb neben ihr sitzen, umschloss sie mit meinen Armen, wiegte sie beruhigend hin und her. Das Sedativ begann zu wirken. Linda wurde leiser und schwerer, die Tränen stockten, sie schlief ein.
Ich bewegte mich lange nicht, veränderte nichts an der Umarmung. Irgendwann verlosch die letzte Kerze. Die Welt war totenstill. Wieder eine dieser schwarzen, undurchschaubaren Nächte. Mir dämmerte jählings etwas. Etwas Unglaubliches. Ich zog meinen Taschenkalender heraus, zündete das Feuerzeug an und suchte das Datum des Tages. Da stand es: Mittwoch, 9. August, Neumond.
COITUS INTERRUPTUS
Eine Pekingoper fordert zur Gegenwehr heraus. Um nicht im frenetischen, zweigestrichenen C der Akteure zu erlöschen. Noch eins höher und Blut spritzt aus den Trommelfellen ungeübter Zuhörer. Griechische Rachegötter, so scheint es, werden als Opernsängerinnen in China wiedergeboren. Ich ging trotzdem hin, wollte wissen, wie viel europäisch erzogenen Ohren zumutbar ist.
Der zweite Teil der Vorstellung fiel leichter. Während der Pause hatte ich Tara kennengelernt, eine Ärztin aus Prag. Ab sofort teilten wir unser Leid. Wann immer die Hauptdarstellerin – in quälendem Liebesschmerz befangen – nach vorn an die Rampe trat, um ihr Elend mittels kreischender Kopfstimme aus sich herauszuquetschen, hielten wir uns gegenseitig die Ohrmuscheln zu.
Das chinesische Publikum litt nie, im Gegenteil, nach jedem Intermezzo brach jubelnder Applaus los, alle strahlten vor Glück. Zudem bot das Ende jedes Begeisterungssturms die Gelegenheit, in ein mitgebrachtes Hühnerbein zu beißen, auf den Fußboden zu spucken und die verstopften Nasen leerzurotzen. Eine wahre Katharsis, für beide Seiten. Spieler und Zuschauer hielten nichts zurück, schonungslos schleuderten sie alles aus sich heraus.
Hinterher schlenderten Tara und ich die Xichangan Street entlang, die mitten durch Peking führt. Der warme Wind aus der Wüste Gobi, der seit Tagen durch die Straßen wehte, tat gut. Wir waren uns versprochen. Ohne große Vorverhandlungen. Aber es eilte nicht, die nächtliche Stadt ohne ihre zehn Millionen Einwohner war ein kleiner Traum, den wir noch mitnehmen wollten. Und wir hatten Sehnsucht nach westlicher Musik, nach den Bee Gees , nach Lionel Ritchie , nach jedem, der echten, samtenen Kitsch versprach. Als Balsam, als Erste Hilfe für die lädierten Gehörknöchelchen.
Vorbei am Regierungsviertel und der Verbotenen Stadt erreichten wir kurz vor 22 Uhr das Beijing Hotel , wo man uns eine Diskothek versprochen hatte. Und einen Discjockey, bei dem man seine Wünsche anmelden konnte.
Aber
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